Organspenden: An der Warteliste vorbei
Organspenden werden zunehmend an der offiziellen Warteliste vorbei vermittelt. Ist das rechtens?
Nach den Skandalen um manipulierte Organspenden in Göttingen und Regensburg registriert die Öffentlichkeit sehr aufmerksam alle Nachrichten aus diesem Bereich der Medizin. Denn jeder Vertrauensverlust birgt das Risiko, dass die Spendenbereitschaft sinkt und Patienten ein dringend benötigtes Organ versagt bleibt. Nun gibt es offizielle Zahlen, wonach beschleunigte Verfahren bei der Organverteilung immer häufiger werden. Das bedeutet: Patienten erhalten Spenderorgane, obwohl sie laut Warteliste noch gar nicht an der Reihe wären. Jede zweite Bauchspeicheldrüse, mehr als jede dritte Leber, und fast jedes vierte Herz wurde im vergangenen Jahr über ein so genanntes beschleunigtes Verfahren vergeben. Im Jahr 2002 lag der Anteil dieser Schnellverfahren bei sämtlichen Organen noch unter elf Prozent.
Worauf ist die Steigerung zurückzuführen?
In den vergangenen zehn Jahren seien die Organspender deutlich älter geworden, sagt Wolf Bechstein, Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft. Das bedeutet, dass Organe altersspezifische Veränderungen aufweisen und nur bei bestimmten Patienten noch transplantiert werden können. Ein Beispiel: Nieren von über 65-jährigen Spendern gehen ausschließlich an wartende Patienten derselben Altersgruppe. Hinzu kommt, dass häufiger als früher Krankheiten oder Schlaganfälle zum Hirntod führen als Schädelhirntrauma. Dadurch sind diese Organe nicht immer von bester Qualität und werden abgelehnt. Man habe das beschleunigte Verfahren in den vergangenen Jahren bewusst erleichtert, um eine „möglichst gute Ausnutzung“ zu erreichen , sagt Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery. Dies bedeute aber nicht, „dass uns die Dynamik dieser erleichterten Organvermittlung nicht erheblich irritiert“. Der Sonderfall dürfe „am Ende nicht zum Regelfall werden“, warnt er. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion Karl Lauterbach nennt den starken Anstieg der beschleunigten Organvermittlung „hoch verdächtig“ und „medizinisch nicht nachvollziehbar“. Er sei allein durch demografische Entwicklungen und einen schlechteren Gesundheitszustand der Organspender nicht erklärbar.
Wie läuft die Organvermittlung normalerweise?
Generell orientiert sie sich an zwei Kriterien: der Dringlichkeit und der Erfolgsaussicht einer Transplantation. Ansonsten gibt es für jedes einzelne Organ spezielle Richtlinien der Bundesärztekammer. In Deutschland warten zurzeit 12 000 Patienten wegen eines Organversagens auf ein Spenderorgan. Vor der Aufnahme in eine Warteliste werden die zum Teil auch jungen Patienten und die Familien über Risiken und Erfolgsaussichten aufgeklärt. Die Entscheidung über die Aufnahme in eine Warteliste trifft das Transplantationszentrum gemeinsam mit dem Patienten. In Deutschland gibt es rund 50 Zentren. Das Patientenprofil, darunter Gewebetypisierungen, wird der Vermittlungsstelle Eurotransplant im niederländischen Leiden mitgeteilt. Auch potenzielle Spenderorgane werden Eurotransplant gemeldet. Die Organe werden nach bestimmten Kriterien an die Patienten auf der Warteliste vergeben. Die Stiftung Eurotransplant vermittelt Organe an die Benelux-Staaten, Deutschland, Österreich, Slowenien und Kroatien. Durch den Zusammenschluss mehrerer Länder haben die Patienten auch größere Chancen, ein passendes Spenderorgan zu erhalten. Die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) ist für die Koordinierung der Organspende verantwortlich: Mitarbeiter sprechen zum Beispiel mit Angehörigen oder organisieren den Transport der Organe.
In welchen Fällen ist das beschleunigte Verfahren vorgesehen?
In welchen Fällen ist das beschleunigte Verfahren vorgesehen?
Nach den Vorgaben der Bundesärztekammer darf es sich dabei nur um „schwer vermittelbare Organe“ handeln. Eine exakte Definition von Kriterien, die diese unter Umständen immer noch gut funktionsfähigen Organe beschreiben, sei aber „auf Grund der Ursachenvielfalt nicht möglich“. Denkbar sind etwa schwere Vorerkrankungen des Spenders wie Tumorleiden oder dessen fortgeschrittenes Alter. Spender von Bauchspeicheldrüsen etwa dürfen, um im normalen Wartelistenverfahren zu bleiben, nicht älter als 50 und nicht übergewichtig sein. Das beschleunigte Verfahren wird angewendet, wenn aus logistischen Gründen ein Organverlust droht, bei dem Spender die für die Organentnahme notwendige künstliche Aufrechterhaltung seines Kreislaufs nicht mehr gewährleistet ist oder wenn drei Transplantationszentren das Angebot eines Herzens, von Lungen, einer Bauchspeicheldrüse oder einer Leber abgelehnt haben. Bei einer Niere müssen fünf Zentren das Angebot abgelehnt haben. Organe werden beim beschleunigten Verfahren dann primär in einer Region angeboten. In großen Transplantationszentren ist es deshalb nicht ausgeschlossen, dass ein Spenderorgan in einer Klinik entnommen und dort auch transplantiert wird. Die Attestierung erfolgt nach einem genau festgelegten Prüfverfahren durch zwei speziell qualifizierte Ärzte. Beide untersuchen unabhängig voneinander und unabhängig vom Transplantationsteam.
Organentnahme, -vermittlung und -transplantation sind organisatorisch und personell voneinander getrennt. Wer von den vielen Menschen auf der Warteliste ein Organ erhält, wird nach einem sehr komplizierten Verfahren entschieden, in das medizinische Gesichtspunkte genauso eingehen wie die räumliche Entfernung zwischen Spender und Empfänger. Denn die Ischämiezeit – Zeitspanne, die ein Organ ohne Sauerstoffzufuhr auf Eis unbeschadet überstehen kann – ist von Organ zu Organ unterschiedlich. Bei Herz und Lunge sind es drei bis vier, bei Leber und Pankreas maximal zwölf und bei der Niere 18 Stunden.
Erhöht die beschleunigte Vermittlung von Spenderorganen das Manipulationsrisiko?
Der Fall in Göttingen hat gezeigt, dass die Begehrlichkeiten groß und medizinische Tricksereien nicht ausgeschlossen sind. Um das feste System der Organverteilung zu unterlaufen und eigene Patienten schneller zum Zuge kommen zu lassen, könnten Spenderorgane nach außen hin etwa schlechter „gemacht“ werden, als sie sind. Es liege auf der Hand, dass das Schnellverfahren „für Manipulationen Tür und Tor öffnet“, sagt SPD-Politiker Lauterbach. Und schon vor drei Jahren beklagten Mediziner, Krankenkassen und Sachverständige in einer Studie des Berliner Iges-Instituts die fehlende Transparenz solcher Organvermittlungen. „Hier wird aufgrund des geringen Standardisierungsgrades des Verfahrens eine Manipulationsanfälligkeit gesehen“, heißt es darin. Auch der Transplantationsmediziner Bechstein fordert „mehr Transparenz bei Eurotransplant. Wir wissen bisher nicht, in welchen Transplantationszentren beschleunigte Verfahren durchgeführt werden beziehungsweise wo es möglicherweise regionale Auffälligkeiten gibt“.
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