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Gegen die öffentliche Folter des saudischen Bloggers Raif Badawi durch Stockschläge protestieren Menschen vor der Botschaft von Saudi-Arabien in London im Januar
© Facundo Arrizabalaga/picture alliance-dpa

Menschenrechte: Amnesty International zieht Horror-Bilanz von 2014

Folter, Vergewaltigung, Mord: Der Jahresbericht von Amnesty International widmet sich der wachsenden Gewalt von Milizen wie Boko Haram oder dem "Islamischen Staat" - und geißelt das Versagen der internationalen Gemeinschaft.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat Regierungen und den UN vorgeworfen, sie versagten in beschämender Weise vor wachsendem Flüchtlingselend und Gewalt gegen Zivilisten. Anlässlich der Präsentation des Jahresberichts 2014/15 verwies die Generalsekretärin der deutschen Sektion, Selmin Caliskan, auf das Beispiel des UN-Sicherheitsrats, der in der Syrienfrage „komplett blockiert“ sei. Statt die syrische Zivilbevölkerung zu schützen, stecke er in „einer Art neuer Kalter Krieg“ fest. Caliskan forderte die Vetomächte im Sicherheitsrat auf, in humanitären Fragen auf ihr Vorrecht zu verzichten. Derzeit funktioniere nicht einmal die Ernährung der syrischen Flüchtlinge, weil das entsprechende UN-Programm nur zu 60 Prozent finanziert sei. Beschämend sei auch, dass der kleine Libanon allein 715-mal mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die gesamte EU in den letzten drei Jahren.

Ins Zentrum ihres „International Report“ hat die Organisation diesmal Menschenrechtsverletzungen nichtstaatlicher Milizen gestellt. Sie würden allerdings durch Regierungshandeln, etwa die Kriegführung der syrischen Regierung oder die brutale Verfolgung auch nur Boko-Haram-Verdächtiger in Nigeria begünstigt. „Von Washington bis Damaskus, von Abuja bis Colombo, rechtfertigen Regierungen schreckliche Menschenrechtsverletzungen mit der Sicherheit ihrer Länder“, schreibt der Generalsekretär von AI international, Salil Shetty, im Bericht. „In Wirklichkeit stimmt das Gegenteil: Diese Verstöße sind eine wesentliche Ursache dafür, dass wir heute in einer so gefährlichen Welt leben.“

Der Bericht, der am heutigen Mittwoch weltweit veröffentlicht wird, dokumentiert die Lage der Menschenrechte in 160 Ländern, über die AI Informationen sammeln konnte, über systematische Folter und Vergewaltigungen, Morde, die Unterdrückung von Meinungs- und Informationsfreiheit. Für Afrika vermerkt AI, dass einerseits acht afrikanische Länder unter den zehn seien, die am nächsten daran seien, die UN-Milleniumsziele für Entwicklung zu erreichen und eine wachsende Bürgerrechtsbewegung mache "Hoffnung auf Gerechtigkeit und Würde". Andererseits sei die Zahl der sehr Armen gestiegen, sexuelle Minderheiten würden unterdrückt und die Mütter- und Kindersterblichkeit werde wohl nicht so weit sinken wie von den UN vorgegeben.

Frauen in Friedensverhandlungen vor der Tür

Für Süd- und Nordamerika konstatiert AI, dass sich "Ungleichheit, Diskriminierung, Umweltzerstörung, Straflosigkeit, Unsicherheit und gewalttätige Konflikte" 2014 verschärften. Wer sich dagegen auflehne, sei erhöhter Gewalt ausgesetzt - auch in Kanada und den USA übersteige der Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten das erlaubte Maß. In Asien und dem Pazifikraum, der die Hälfte der Erde ausmacht und mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung stellt, gebe es trotz Hoffnungszeichen einen "Trend zurück", weil Menschenrechtsverletzungen weiter straflos blieben, die Lage der Frauen - als Opfer von Gewalt und ungleicher Behandlung - unverändert sei, weiter gefoltert und hingerichtet und die Versammlungs- und Meinungsfreiheit missachtet würden. Allerdings sei 2014 auch das Menschenrechtsengagement in dieser Gegend der Welt größer geworden - vor allem durch junge Leute, denen bezahlbare Kommunikationstechnik helfe, sich zu vernetzen. "Oft stehen Frauen dabei in der ersten Reihe", heißt es im Bericht. Leider, so Selmin Caliskan, würden Frauen aber noch immer zu selten als wertvolle Akteurinnen in Friedensprozessen begriffen und aus Konfliktlösungsverhandlungen ausgeschlossen.

Auch die Demokratien des Westens sind wieder Teil der Dokumentation: Den USA wirft AI nicht zum ersten Mal Folter und Rechtsbrüche im „Krieg gegen den Terror“ vor. Zwar habe die Freigabe des Senatsberichts über die Folterungen nach 9/11 Ende 2014 neue Aufmerksamkeit für die Botschaft "Keine Folter" gebracht. Präsident Obama habe die Schuld der USA bekannt, schweige aber weiter darüber, wer dafür zur Verantwortung zu ziehen sei. Dies zeige, dass die USA "sich weiter weigern, ihren internationalen Pflichten auf diesem Feld nachzukommen". Auch die Todesstrafe, die die USA als einziges amerikanischer Staat noch praktiziere, und die Gewalt gegen schwarze Bürger - genannt werden zwei Todesopfer, der New Yorker Zigarettenverkäufer Eric Garner und der Teenager Michael Brown in Ferguson in Missouri - thematisiert der Jahresbericht.

Deutsche Waffen und der NSU

Auch für Deutschland, die Schweiz, Dänemark, Australien und Großbritannien gibt es im AI-Bericht Länderdossiers. Deutschlands Aufnahmeprogramm für 20 000 syrische Flüchtlinge wird ebenso erwähnt wie das Label "sicherer Herkunftsstaat" für Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina Diese Einschätzung verringere die Möglichkeiten für Menschen aus diesen Ländern, Schutz in Deutschland zu suchen. Das novellierte Asylbewerberleistungsgesetz, das im April 2015 in Kraft treten wird, bleibt nach Auffassung von AI vor allem im Punkt Gesundheitsversorgung hinter Menschenrechtsstandards zurück. Kein Bundesland habe zudem bisher unabhängige Stellen eingerichtet, die Fälle von Polizeigewalt in Deutschland untersuchten. Die Konsequenzen aus dem NSU-Skandal im Strafrecht und der Polizeiarbeit seien bisher nicht gezogen, bemerkt der AI-Bericht..

Kritisch sieht die Organisation auch die deutschen Waffenexporte. Zwar habe das Wirtschaftsministerium die Exportrichtlinien verschärft, aber man sei "besorgt" über Rüstungslieferungen, auch von Kleinwaffen, 2014 etwa an Saudi-Arabien. Selmin Caliskan verwies bei Vorstellung des Berichts auf Gewehre aus der deutschen Schmiede Heckler und Koch, die auch in Spannungsgebieten wie Libyen und Mexiko auftauchten. Solange Deutschland keine Endverbleibskontrolle für seine Waffenexporte einführe, blieben auch strenge Exportrichtlinien wirkungslos. Sie empfahl Deutschland, statt Rüstung lieber Rechtsstaatlichkeit zu exportieren, Polizeibeamte, Staatsanwältinnen und Rechtsanwälte. Aus ihrer eigenen Arbeit wisse sie, dass das funktioniere. Derzeit allerdings seien derzeit gerade einmal 24 deutsche Polizistinnen und Polizisten in UN-Missionen im Einsatz.

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