John Demjanjuk: Alte Schuld
John Demjanjuk ist verurteilt, wenn auch nicht rechtskräftig. Sterben wird er wohl in Freiheit
An dem Tag, an dem seine Schuld festgestellt wird, muss John Demjanjuk einmal für wenige Minuten im Rollstuhl sitzen, seinen Richtern gegenüber. Unbeweglich verharrt er dort, während der Vorsitzende Richter Ralph Alt das Urteil verkündet: fünf Jahre Haft, weil er als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor beim Massenmord an den Juden half.
Ein wenig später starrt Demjanjuk schon wieder an die Decke, im Krankenbett liegend. So sieht er auch nicht, wie die Nebenkläger mit den Tränen kämpfen, als der Richter über die Opfer von Sobibor spricht. Alt zählt alle Transporte auf, die von März bis September 1943 aus dem niederländischen Lager Westerbork in das Vernichtungslager kamen, er nennt das Datum, die Zahl der Juden in dem Zug und die Zahl der Ermordeten. Vor allem aber erwähnt er dabei jeden Nebenkläger und dessen Angehörige. Rudie Cortissos wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, als der Richter zum 21. Mai 1943 kommt. An diesem Tag wurde seine Mutter in Sobibor ermordet. Noch heute beschäftigt ihn der Verlust seiner ganzen Familie fast täglich, 64 Angehörige wurden Opfer des Holocaust.
Auch der Vorsitzende Richter selbst sagt, es berühre ihn, „dass man heute über die Ermordung einer Person verhandelt, die 1848 geboren wurde“. Über 90 Jahre war das älteste Opfer in den Zügen aus Westerbork, das jüngste Opfer war nur wenige Monate alt.
Die Urteilsbegründung im Landgericht München wird zur Lehrstunde über die Geschichte des Holocaust. Detailliert beschreibt Alt die„Aktion Reinhardt“, die planmäßige Vernichtung der europäischen Juden im Generalgouvernement, dem von Deutschland besetzten Polen, und die Rolle der ausländischen Hilfswilligen, die im SS-Lager Trawniki ausgebildet wurden. Jeder Wachmann in Sobibor sei an derVernichtung der Juden beteiligt gewesen, auch der Angeklagte, betont der Richter. Dass diese Taten offensichtlich rechtswidrig waren, sei für jeden, unabhängig von seiner Bildung, erkennbar gewesen. Insgesamt seien 1000 von 5000 Trawniki-Männern geflohen. Die Flucht war nach Auffassung des Gerichts auch dem Angeklagten zuzumuten.
Für die Nebenkläger war es schon von großer Bedeutung, dass vor dem Münchner Landgericht die Verbrechen in Sobibor und das Schicksal ihrer Angehörigen zur Sprache kamen. Der ganze Prozess sei eine große Erleichterung für ihn gewesen, sagt Rudie Cortissos. „Vor diesem Gericht konnte ich sagen, was ich seit fünfzig Jahren sagen wollte.“ Der 72-Jährige wurde als Zeuge gehört. „Nun kann ich ein Kapitel meines Lebens schließen, ein Kapitel der Geschichte“, sagt Cortissos. „Aber das bedeutet nicht, dass ich vergessen kann.“
Der israelische Journalist und Auschwitz-Überlebende Noah Klieger hat fast alle großen NS-Prozesse in der Bundesrepublik beobachtet – auch den Münchner Demjanjuk-Prozess. Mit dem Urteil ist er zufrieden. Die deutscheJustiz habe in den vergangenen Jahrzehnten versagt. Doch nur weil andere Mörder davonkamen, heiße das nicht, dass man alle Mörder davonkommen lassen könne. Das Argument der Verteidigung, die Wachmänner in Sobibor seien nur „die kleinsten der kleinen Fische“ gewesen, will er nicht gelten lassen. „Auch die kleinsten der Kleinen waren Mörder“, sagt der 85-Jährige.
Demjanjuk selbst konnte den Gerichtssaal am Ende als freier Mann verlassen. Richter Alt hob den Haftbefehl nach zwei Jahren Untersuchungshaft auf, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig sei und nicht die Gefahr bestehe, dass der Staatenlose sich ins Ausland absetzt. Bis die vom Verteidiger beantragte Revision vor dem Bundesgerichtshof abgeschlossen ist, kann es noch Jahre dauern – es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der 91-Jährige das noch erlebt. „Ich gehe davon aus, dass mein Mandant nicht in ein deutsches Gefängnis zurückkehrt“, sagt sein Rechtsanwalt Ulrich Busch. Demjanjuk werde wohl in einem Altersheim in München oder in der Umgebung unterkommen. Nach dem Urteil zeigte er sich erstmals wieder ohne Sonnenbrille.
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