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Den Menschen in Syrien fehlt es mittlerweile fast an allem.
© Ibrahim Fawal

Syrien-Konflikt: "Als wären wir auf der Warteliste des Todes"

In Syrien fehlt es den Menschen inzwischen an allem. Unsere Autorin Razan Zeitouneh lebt dort. Sie berichtet vom Leben und Sterben in einer belagerten Stadt.

Wenn eine Granate direkt auf dich fällt, hörst du ihren Knall nicht. So sagen sie es hier. Wenn man den Knall hört, könnte das bedeuten, die Granate kommt ganz in der Nähe herunter. Und dann betet man dafür, lieber zu sterben als ein Bein oder einen Arm zu verlieren. Einige Leute sagen auch: Auf der Granate, die dich tötet, steht dein Name geschrieben. Ich mag dieses Märchen. Irgendwie ist es beruhigend. Aber eigentlich ist der eigene Tod das Letzte, woran die Menschen hier denken – in einer Gegend, die Tag und Nacht von den Regierungstruppen bombardiert wird.

Das größte Problem der Menschen ist, mit dem täglichen Sterben und dem Schmerz um sie herum umzugehen. Vor einigen Tagen hat mich ein Vater besucht, er wird Mitte 50 gewesen sein. Er hat seine sieben Kinder bei einem Beschuss seines Hauses verloren. Das jüngste Kind, es war ein Jahr alt, wurde ins Krankenhaus gebracht. Doch dort verschwand es, nachdem Regierungstruppen die Klinik überfallen hatten.

Kein Schmerz, nur Wut

Der Mann, der zu mir kam, war völlig gebrochen. Wie ein alter morscher Baum. Zehn Worte hat er gesagt, dann schaute er zu Boden, vergoss zwei Tränen und fuhr fort: „Ich will wenigstens wissen, ob mein Jüngster tot ist, dann könnte ich ihn mit seinen Brüdern und Schwestern begraben.“ Du brauchst dich nicht schämen für deine Tränen, wollte ich ihm noch sagen. Wir müssen uns schämen, weil wir dir nicht helfen können. Weil wir es zugelassen haben, dass du jetzt all diese Sorgen hast. Es sind diese Momente, in denen man keinen Schmerz spürt, nur Wut.

Eigentlich ist es albern: Ich habe mich geärgert, als ich herausfand, dass einer unserer Nachbarn Strom von unserem Generator abgezapft hatte. Aber wie konnte er nur? Zehn Monate hatten wir bereits ohne Elektrizität leben müssen. Ein Liter Diesel kostet 350 Lira (2,50 Euro). Damit können wir den Generator eine Stunde lang betreiben, unsere Laptops aufladen, die nötigsten Dinge im Haus erledigen. Selbst nur wenige Stunden Strom pro Tag kann ich mir kaum leisten. Deswegen habe ich mich über den Nachbarn geärgert. Es hat nichts damit zu tun, dass ich gemein wäre.

Assad stürzen und Eis essen

Kaltes Wasser ist herrlich. Sogar jetzt, im Ramadan, stehen die Leute in dieser erbarmungslosen Hitze Schlange, um etwas Eis zu kaufen. Ich trinke lieber warmes Wasser, als mich dort anzustellen. Wir versuchen, nicht allzu oft an unsere körperlichen Bedürfnisse zu denken. Nicht nur, weil unsere Körper ohnehin jederzeit in Stücke zerfetzt werden könnten. Auch, weil es unheimlich schwierig ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen. In einer Stadt, die seit Monaten belagert wird. Wenn man ein Kind fragt, was sein größter Wunsch ist, kommt häufig dieselbe Antwort: Das Baschar (al Assad) gestürzt wird. Und Eiscreme. Kein Witz. Ich habe es selbst gehört. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Also schwieg ich.

Brot oder Tod

Ich persönlich sehne mich eher nach Brot. Wir essen kaum Brot. Vielleicht einmal im Monat. Zweimal, wenn wir Glück haben. Wenn Brot verteilt wird, gibt es eine lange Schlange vor der Ausgabe. Die Leute weichen keinen Milimeter von ihrem Platz. Egal, ob die Gegend gerade unter Beschuss steht, wie viele Explosionen das Areal erschüttern oder wie oft die Kampfjets über ihre Köpfe hinwegdonnern. Brot oder Tod! Aber glauben Sie nicht, dass das Leben hier nur furchtbar wäre oder dass die Menschen aufgeben würden. Überraschenderweise „genießen“ sie ihr Leben, so gut es eben geht. Viele junge Menschen haben geheiratet. Viele wollen Kinder. Es ist das Einzige, was ihnen das Gefühl gibt, dass das Leben weitergeht.

Razan Zeitouneh
Razan Zeitouneh
© Reuters

Von allen Politikern kann ich Obama am wenigsten ertragen

Was wird morgen? Niemand weiß es. Niemanden kümmert es. So als stünden wir alle nur auf einer Warteliste des Todes. Zeit spielt keine Rolle. Die Zukunft gehört nicht uns. Am bemerkenswertesten finde ich, dass wir uns überhaupt nicht für Nachrichten interessieren. Als lebten wir auf einer einsamen Insel. Wir wollen die Lügen nicht sehen, die verbreitet werden. Wir wollen uns keine Sender ansehen, die unsere Revolution als „Bürgerkrieg“ abtun. Und vor allem können wir auf das Mitleid von Herrn Obama verzichten. Von allen Politikern kann ich den amerikanischen Präsidenten am wenigsten ertragen: Jenen Mann, der den Friedensnobelpreis für einen Traum bekam, den er der Welt andrehen konnte – der nicht mehr war, als eine Illusion. Anders als er verkaufen wir unsere Träume nicht. Wir kämpfen dafür. Das Einzige, was uns geblieben ist, ist die Entscheidung, durchzuhalten und weiter für diesen kindischen Traum von Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

(Übersetzt von Sidney Gennies)

Über die Autorin

Razan Zeitouneh ist syrische Anwältin und Menschrechtsaktivistin. Die 36-Jährige engagiert sich seit Beginn der Revolution gegen das Regime von Machthaber Baschar al Assad im März 2011 in der Opposition. Da sie sofort nach Beginn der Proteste vom Staat beschuldigt wurde, ausländische Agentin zu sein, lebt sie seitdem versteckt. Nachdem sie untergetaucht war, wurden ihr Mann und dessen Bruder in Isolationshaft genommen. Im Oktober 2011 erhielt Zeitouneh gemeinsam mit vier anderen arabischen Aktivisten für ihre besonderen Verdienste um Menschrechte den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. Im März dieses Jahres wurde sie vom Außenministerium der USA als eine von neun Frauen weltweit für ihren Einsatz für Frauenrechte mit dem International Women of Courage Award ausgezeichnet. Weitere Texte von Zeitouneh finden Sie unter: www.damascusbureau.org

Razan Zeitouneh

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