Erdogan mit dem Rücken zur Wand: Als Nächstes geht es den Frauenrechten an den Kragen
Der türkische Präsident hat mit der Umwandlung der Hagia Sophia den Islamisten und Nationalisten nachgegeben. Was folgt daraus? Ein Kommentar.
Die Türkei und die Welt haben sich daran gewöhnt, Recep Tayyip Erdogan als mächtigsten Mann in einem wichtigen Land zu sehen. Seit fast 20 Jahren bestimmt Erdogan die Geschicke der Türkei, er hat die Republik zunächst mit Reformen nach vorne gebracht, bevor er sich auf den eigenen Machterhalt konzentrierte und zum Autokraten wurde.
Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 geht er unerbittlich gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner vor. Doch Erdogan steht politisch mit dem Rücken zur Wand. Im Laufe der Jahre hat er sich mit allen innenpolitischen Partnern überworfen – nur die Rechtsnationalisten sind ihm geblieben.
An ihnen hängt die Mehrheit für seine Partei AKP im Parlament und womöglich auch seine eigene Mehrheit bei der nächsten Präsidentenwahl, die in spätestens drei Jahren ansteht.
Erdogan ist ziemlich allein, national und international
Erdogan hat schon oft bewiesen, dass er sich aus politischen Notsituationen wieder befreien kann, aber diesmal wird es besonders schwierig. Die Wirtschaft, einst das Aushängeschild der AKP, leidet unter Strukturproblemen, grassierender Korruption, der Abwanderung ausländischer Investoren und der Corona-Pandemie, die den wichtigen Devisenbringer Tourismus lahmlegt.
Die Türkei hat Krach mit Europa und den USA, ist in Syrien und in Libyen in Kriege verwickelt und hat außer dem kleinen Katar kaum noch Verbündete.
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Erdogans Regierung reagiert auf die vielen Herausforderungen, indem sie sich in die Wagenburg zurückzieht und auf alles zielt, was sich draußen bewegt. Weil die legale Kurdenpartei HDP mit politischen Mitteln nicht kleinzukriegen ist, hat die Regierung Dutzende ihrer Politiker ins Gefängnis werfen lassen.
Mit einem neuen Gesetz sollen die Anwaltskammern, wichtige Institutionen der Zivilgesellschaft, an die Kette gelegt werden. Kritik an der Regierung in den sozialen Medien begegnet Erdogan mit der Ankündigung, Twitter und Co. zu verbieten.
Bürger zweifeln zunehmend an Erdogan, doch die Opposition bleibt zersplittert
Mit der Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul von einem Museum in eine Moschee hat Erdogan gezeigt, dass er keine andere Möglichkeit mehr sieht, als islamistische und nationalistische Kreise zu bedienen. Er musste diese vermeintliche Trumpfkarte spielen, weil er nur noch wenig in der Hand hat. Islamisten wie Nationalisten verlangen als nächsten Schritt den Abbau von Frauenrechten, angeblich zum Wohl der Familie.
All das bedeutet nicht, dass Erdogan bald die Macht verlieren wird. Die Opposition ist zersplittert und nur ausnahmsweise wie bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr zu strategischen Bündnissen fähig. Doch in den Umfragen verlieren Erdogan und die AKP ständig an Boden.
Vier Jahre nach dem Putschversuch wachsen bei vielen Türken offenbar Zweifel, ob er der richtige Mann ist, um das Land aus der Krise zu führen.