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Aber hier leben? Auschwitz heißt auf Polnisch Oswiecim, 40.000 Menschen leben in der 800 Jahre alten Stadt
© Imago

70 Jahre Befreiung von Auschwitz: Alltag und Horror

Auschwitz – das ist nicht nur KZ und Gedenkstätte. Das ist auch eine Stadt. Ihre Bewohner sehnen sich nach Normalität, aber das Stigma ist gewaltig.

Als im Jahr 2000 das erste Internetcafé in seine kleine Stadt kam, wollte er von dort aus Menschen in der ganzen Welt kennenlernen und nebenbei sein Englisch verbessern. Er surfte durch die Chatrooms, die sich ihm eröffneten, aber weit kam er selten.

„Hi, wie heißt du?“, wurde er gefragt. „Wie geht es dir?“ „Was machst du?“ Das ging alles. Aber irgendwann kam auch: „Wo wohnst Du?“

„In Oswiecim.“

„Oswiecim?... Auschwitz?“

„Ja.“

„Du willst mich veräppeln!“

„Nein, da wohne ich wirklich.“

„Das war es dann mit dem Leutekennenlernen“, sagt Zbigniew Klima, 34, Politologe, Hobby-Historiker, Lokalpatriot und lächelt. Fremde wüssten oft nicht, wie sie auf diesen Namen reagieren sollen, sei seine Erfahrung. Sie zuckten zurück, erschreckten, würden verlegen. Oder sie machten Witze – „in einer Baracke, oder was?“, oder sie fragten, wie man da überhaupt wohnen könne, am Ort des Schreckens.

Manche von Klimas Freunden sagen, um all dem zu entgehen, dass sie in Krakau wohnen, der rund 50 Kilometer weiter im Osten liegenden weitgehend imagefreien Nachbarstadt. Das fiele ihm aber nicht ein. Es sei toll, in Oswiecim zu leben, sagt er. Es gebe alles, Cafés, Treffpunkte, einen Marktplatz, alte Kirchen, eine kleine Hochschule, nette Leute und ein mittelalterliches Schloss. Aber wer weiß das schon? Auschwitz-Birkenau – das kennen alle. Und so haben die Deutschen der Stadt, in die sie 1939 einfielen, sie zum Reichsgebiet erklärten, einen Adolf-Hitler-Platz benannten und dann Konzentrationslager für ihren Massenmord errichteten, nicht nur damals die Gegenwart geraubt – sie raubten ihr auch für Jahrzehnte eine Zukunft.

Immer kamen die Mitbestimmer und legten fest, was geht an diesem Ort

Die Stadtverwaltungen, die kamen und gingen, überlegten, was zu tun sein, aber sie erreichten nicht viel, denn immer wieder kamen von außen die Mitbestimmer, die sagten, dies oder das gehe nicht an diesem Ort. Firmen wollten und wollen nicht investieren, weil sie die monströse Chiffre des Schreckens in ihrem Portfolio fürchten. Junge Leute finden keine Arbeit und ziehen weg. So ist es bis heute. Wenn es um Oswiecim geht, geht es um Auschwitz, das Lager, oder um die Feiern zum Gedenken an dessen Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar vor 70 Jahren. Gerade sind die Zeitungen wieder voll davon und vom Streit um die Gästeliste, weil der russische Präsident kommenden Dienstag nicht anreisen wird.

Deutsche Städte wie Oranienburg oder Weimar konnten sich von den Namen ihrer Konzentrationslager emanzipieren, Auschwitz nicht, Treblinka auch nicht. Treblinka ist winzig, dort wohnen keine 300 Menschen. Aber Auschwitz hat 40 000 Einwohner, alles Unsichtbare.

Janina Paszek, Jahrgang 1926, ist eine der wenigen Einwohner, für die das KZ in der Stadt keine Selbstverständlichkeit ist. Sie kennt Oswiecim noch als Standort einer Auto- und einer Papierfabrik. Auch Likör wurde hier früher hergestellt.

Die kleine Wohnung von Janina Paszek ist voller Andenken. Fotos, Bücher, Dokumente. Alles schön geordnet und sortiert. An der Wohnzimmerwand hängt eine Dankesurkunde. Sie hat zusammen mit der polnischen Untergrundarmee den Häftlingen im KZ geholfen. Vor ihrem Fenster steht eine Reihe von zum Verwechseln ähnlichen Häusern. Osiedle Chemikow, „Chemiker Siedlung“.

Das Chemiewerk, das mal IG Farben war, ist bis zur Wende Hauptarbeitgeber

Die Chemiefabrik, von KZ-Häftlingen für die IG Farben aufgebaut, war vom Kriegsende bis zur Wende der größte Arbeitgeber im Ort. Wer in Auschwitz lebte, arbeitete entweder in der Chemiefabrik oder im ehemaligen KZ.

Die alte Frau zeigt Familienfotos. Eine Klassenfahrt nach Krakau, die Erstkommunion, ein Tag am Sola-Ufer. Eine Gruppe von jungen Menschen auf einem Feld, am Rande der Stadt. In der Ferne zeichnen sich kleine Häuser ab – Zasole, übersetzt: „hinter der Sola“, eine Vorstadt von Oswiecim. Das Bild muss kurz vor dem Krieg entstanden sein. Heute stehen an dem Feld Baracken des Lagers.

Die Deutschen änderten ab 1939 alles in der Stadt. Die große Synagoge wurde gesprengt. Die Juden wurden zunächst nach Chrzanow verjagt, ins Ghetto. Auschwitz sollte nun zu einer Modellstadt werden. Mit modernen Wohnsiedlungen, Fabriken, Sportanlagen. Viele SS-Leute zogen dorthin, die Zahl der Einwohner verdreifachte sich bis 1945, obwohl viele Polen und alle Juden weg waren. Es wurden Wege festgelegt, die „nur für Deutsche“ bestimmt waren. Wer als Pole dort langging, wurde festgenommen. Anders als in Krakau oder Warschau blieb in Oswiecim „kein Hauch von Normalität“ übrig, erzählt Janina Paszek. „Wir gingen nicht mehr an die Sola und trafen uns nicht mehr in der Stadt. Einer Gruppe von Polen konnte sofort Sabotage oder Komplott vorgeworfen werden.“ Und dann brachten die Deutschen noch den Stacheldraht in die Stadt.

In Oswiecim bekommt alles eine weitere Dimension

Janina Paszek ist Jahrgang 1926, sie kennt die Stadt noch ohne Konzentrationslager.
Janina Paszek ist Jahrgang 1926, sie kennt die Stadt noch ohne Konzentrationslager.
© Agnieszka Hreczuk

Eines Tages, erzählt Janina Paszek, standen Häftlinge und SS-Leute mit dem Stacheldraht in Zasole und nagelten ihn an die Zäune. Sie stand in ihrem Garten und verstand es nicht. „Ein Häftling schaute sich um und flüsterte schnell: verschwinde von hier“, sagt sie. Aus einem Ordner holt Janina Paszek ein altes, vergilbtes Stück Löschpapier. „Hier“, sie klopft mit dem Finger auf einen Punkt, irgendwo zwischen den Positionen 110 und 115. „Unser Haus und das von meinem Onkel.“ Allein in Zasole wurden 127 Häuser abgerissen, um dem Lager Platz zu machen. Das war nicht alles. Neun Dörfer mit mehr als 2000 Häusern sind komplett verschwunden. Mit dem Baumaterial von den Gebäuden wurde das KZ errichtet. In die wenigen Häuser, die direkt hinter der Lagergrenze standen und nicht abgerissen wurden, zogen die SS-Leute ein. Auch der berüchtigte Kommandant Rudolf Höß lebte hier, der am 16. April 1947 als Kriegsverbrecher am Galgen, der vor seinem Haus stand, aufgehängt wurde. Bis heute nennen einige Einwohner das Haus „Villa Höß“. Nicht Janina. „Ich habe die echten Besitzer gekannt“, sagt sie. Die kehrten nicht zurück, andere Familien zogen ein. Schulterzuckend sagt sie: „Was hätten sie tun sollen? – Es gab keine Wohnungen.“

Ihre Tochter will die alten Geschichten nicht mehr hören

Janina Paszek ist noch fit. Sie trifft Jugendliche, erzählt von früher. Die Erinnerung kann sie ohnehin nicht loswerden. Wenn sie an einem Haus vorbeiläuft, in dem einst die Polizei Häftlinge untersuchte, hört sie die Schreie. Auch ans Sola-Ufer, wo sie vor dem Krieg gespielt hat, geht sie nicht mehr. Dort konnte man hören, wenn Häftlinge vor der Todeswand erschossen wurden. „Für mich wird es nie enden“, sagt sie. Lachen sei an diesen Orten für sie schwer.

Es sind solche Sätze, die in den nachfolgenden Generationen auch auf Protest stoßen. Janinas Tochter, selbst schon 60 Jahre alt, bricht das Gespräch ab, wenn die Mutter aufs Lager kommt. „Sie sagt, ich rede zu viel, und man muss weiterleben“, sagt Janina Paszek.

Für alle, die neu in der Stadt sind, ist das zunächst eine Herausforderung. Das Gesicht erstarrt, der Schritt wird langsamer, die Stimme leiser, wenn man die Straße entlanggeht, die Ostatni Etap heißt: Letzte Etappe. Beim Anblick eines Schornsteins zuckt man entsetzt zurück, obwohl es nur eine Gerberei ist. Die Geräusche eines vorbeirollenden Zuges lassen die Frage aufkommen, ob so auch die Menschentransporte zu hören waren. Eine Frau geht mit einem Hund Gassi und telefoniert per Handy. Hat sie das Rattern überhaupt gehört? Die Züge fahren immer gleich, in Warschau oder in Berlin oder in Oswiecim. Nur, dass alles in Oswiecim eine weitere Dimension bekommt.

Das war der Schock: Festzustellen, dass seine Stadt die absolute Ausnahme ist

Zbigniew Klima, der verhinderte Internetsurfer, gehört zu jener späten Generation, die ihre Stadt nur mit der KZ-Gedenkstätte kennt. Die war und ist Teil der Stadt, Punkt, Ende. Alle Schulklassen gehen dorthin. Schritt für Schritt bildet sich in den Köpfen der hier geborenen Kinder das Unfassbare. Es sei anders als bei den Touristen, die aus dem Bus steigen und das ganze Grauen innerhalb weniger Stunden aufnehmen sollen. So richtig könne er gar nicht sagen, wann ihm klar geworden ist, dass er am KZ lebt, sagt Zbigniew Klima. „Ich habe den Eindruck, ich wusste es schon immer.“

Zbigniew Klima würde trotz allem nie aus seiner Heimatstadt weggehen.
Zbigniew Klima würde trotz allem nie aus seiner Heimatstadt weggehen.
© Agnieszka Hreczuk

Klima ist heute Vorsitzender des Vereins „Auschwitz Memento“, einer ehrenamtlichen Einrichtung, die die Geschichte des Auschwitz-Komplexes recherchiert. Er sagt, es sei Teil seiner Umgebung und der Stadt. Auch Teil der Geschichte der Großeltern, die hier wohnten. Das sei schon ein seltsames Gefühl. Aber der Schock sei erst gekommen, als er merkte, dass seine Stadt die einzige auf der ganzen Welt ist, die man nur mit einem Konzentrationslager assoziiert. „Oswiecim wird mit Auschwitz gleichgestellt. Und wir, die Einwohner – sind fast wie Lästerer.“ Er sagt, es sei nicht einfach, derart stigmatisiert zu leben.

Das Stigma Auschwitz, auch wenn es für Besucher sorgt, steht dem Städtchen vor allem im Weg. Seit der Wende findet die Stadt keinen richtigen Plan für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Jedes Vorhaben wird unter dem Auschwitz-Vorzeichen beäugt. Einmal sollte am Friedhof in der Stadt ein Krematorium gebaut werden. Es gab Proteste aus dem Ausland. Werbeflächen lösen Empörung aus, ein Einkaufszentrum durfte erst nach einem mehrjährigen Streit gebaut werden. Erst vor zehn Jahren wurde im Stadtzentrum ein Supermarkt gebaut.

Weinende Besucher in der Gedenkstätte - und Selfies von der Todeswand

Als Deutscher in Auschwitz? Das geht, weiß Pater Deselaers aus Aachen. Er lebt seit 25 Jahren in Stadt des Horrors.
Als Deutscher in Auschwitz? Das geht, weiß Pater Deselaers aus Aachen. Er lebt seit 25 Jahren in Stadt des Horrors.
© Agnieszka Hreczuk

Einmal sollte für die jungen Leute eine Disko im Stadtzentrum eröffnet werden, Kilometer vom Lager entfernt. In der 40 000-Einwohner-Stadt fehlten solche Einrichtungen für Jugendliche. Der Plan wuchs sich zu einer internationalen Affäre aus, nachdem in der ausländischen Presse die Worte „Disko“ und „Auschwitz“ zusammengebracht wurden. Die Stadtverwaltung wurde mit Protesten aus der ganzen Welt überschüttet: Das Tanzen in der Stadt, in der mehr als eine Million Menschen ermordet wurden, darf nicht gestattet werden. Die Stadt löste den Vertrag auf. Das für die Disko avisierte Gebäude zerfiel später.

Um die Mauer der ehemaligen Lager herum wurde eine Ruhezone errichtet, 100 Meter breit. In der stehen Häuser, wohnen Menschen. Dennoch gibt es hier keinen Alkohol, keine laut spielenden Kinder, keine Wäsche auf Balkonen oder Satellitenschüsseln. Die Ruhezone durchschneidet das Gelände des Besucherzentrums, in dem es ein italienisches Restaurant – ohne Wein und ohne Bier – gibt, das vor allem von den Touristen lebt.

1,5 Millionen Besucher kamen 2014 in die Gedenkstätte

Und die kommen. 2014 waren es 1,5 Millionen, eine Rekordzahl. Sie kommen nach Auschwitz. Nicht Oswiecim. Die meisten, wie das junge Paar aus Spanien, „never heard the name“, haben nie den Namen Oswiecim gehört. Sie kommen für ein paar Stunden mit dem Bus aus Krakau oder besuchen die Stadt während einer Tour durch Polen. Sie halten auf dem großen Parkplatz vor dem Haupteingang. Sie weinen vor dem riesigen Haufen von Schuhen und Brillen. Ihnen bleibt die Luft weg, wenn sie auf die abgeschnittenen Haare schauen. Sie machen Fotos. Das häufigste Motiv ist das Eingangstor, besonders, wenn eine Katze auf dem Fensterbrett des Wachthauses schläft. Es gibt auch Gruppen, die sich vor der Todeswand gruppieren. Manchmal stellen sie später Selfies ins Internet: Ich in Auschwitz. Sie kaufen sich im Kiosk etwas zu trinken oder auch nicht, weil sie ein Lunchpaket mitgebracht haben. Manchmal staunen sie, weil es auf der anderen Straßenseite ein italienisches Restaurant gibt, ein „Kentucky Fried Chicken“ am Ende der Stadt. Sie schütteln den Kopf und fragen, wie man hier leben kann. Vor der Abreise kaufen sie eine Broschüre auf Englisch, Deutsch, Spanisch oder Schwedisch oder ein Album mit historischen Fotos. Und dann fahren sie zurück. Nach Krakau, Warschau, Berlin, New York, Paris, Tel Aviv oder woher sie auch immer kommen.

„Auschwitz ist Vergangenheit, Oswiecim ist, wo die Leute leben“

Einer, der blieb, hat seine eigene Lösung für die Stadtbetrachtung gefunden. Pater Manfred Deselaers ist ein katholischer Priester aus Aachen. Seit 25 Jahren lebt er in Oswiecim. Probleme wegen seiner Nationalität habe er hier nie gehabt, sagt er. Mehr noch: Eine Studie ergab kürzlich, dass in Oswiecim die Sympathie für Deutsche und Juden größer ist als im Rest von Polen. Wahrscheinlich, weil hier mehr Auseinandersetzung ist.

Deselaers spricht perfekt Polnisch, doch auch wenn er Deutsch spricht, nennt er die Stadt ausschließlich „Oswiecim“. Er habe gelernt, zwischen Auschwitz und Oswiecim zu unterschieden, sagt er. „Auschwitz ist Vergangenheit, Oswiecim ist, wo die Leute leben.“

Als er 1974 zum ersten Mal nach Auschwitz kam, nahm er die Stadt kaum wahr. Zu sehr bedrückte ihn der Besuch im ehemaligen Lager. „So ist es nach der Besichtigung von Auschwitz – man ist nur mit den eigenen Gefühlen und dem eigenem Kontext beschäftigt: Polen mit dem Lager, Juden mit den Gaskammern, Deutsche mit der SS und Schuld.“

Als er danach noch öfter kam, lernte er die Menschen kennen und entdeckte durch sie die Stadt. Dabei wurde ihm klar, wie schwer das Leben hier war. „Überall gibt es Häuser, die etwas mit dem Lager zu tun haben“, sagt er. Aber man könne nicht aus der ganzen Stadt ein Museum machen. Manchmal kämen zu ihm junge Menschen und fragten, warum sie hier anders leben müssten, als die Jugendlichen in anderen Teilen des Landes.

Der Konflikt um die Disko sei ein Glück für Oswiecim gewesen, findet Deselaers. „Durch den Wirbel kommen ausländische Journalisten und entdecken, dass es hier eine Stadt gibt.“ Der Name Oswiecim tauche inzwischen häufiger neben Auschwitz auf. Seitdem, sagt der Pater, ändere sich langsam etwas in der Stadt.

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