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Alt-Bundespräsident Christian Wulff.
© picture alliance / dpa

Christian Wulff über die Flüchtlingskrise: „Abgeschottete Gesellschaften sind nicht zukunftsfähig“

Ex-Bundespräsident Christian Wulff spricht über Flüchtlinge in Deutschland, die besondere Verantwortung der Muslime und die Zukunft Europas.

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Herr Wulff, Ihr großes Thema als Bundespräsident war Integration. Hatten Sie früher als andere eine Ahnung davon, welche Flüchtlingsbewegungen auf Deutschland und Europa zukommen würden?
Mit der derzeitigen Kumulation von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten von Syrien über den Irak bis Afghanistan, Migranten aus dem Balkan, politisch Verfolgten und illegalen Zuwanderern habe auch ich nicht gerechnet.

Bereits in Ihrer Antrittsrede haben Sie von der bunten Republik gesprochen. Wodurch zeichnet sich ein solches Deutschland aus?

Durch die Fähigkeit Menschen zusammenzuführen. Zweimal ist uns das schon gelungen: nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Aufnahme der Vertriebenen und bei der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland vor 25 Jahren. Jetzt stehen wir wieder vor einer historischen Aufgabe: der Integration von hunderttausenden Menschen allerdings mit ganz anderen kulturellen Erfahrungen und oft einer anderen Religion. Das ist in der Größenordnung nicht vergleichbar, aber unvergleichlich anspruchsvoller.

Inwiefern?

Abgeschottete Gesellschaften entwickeln sich nicht, sie sind nicht zukunftsfähig, am Ende auch nicht konkurrenzfähig in einer zusammenwachsenden Welt.

Unter welchen Voraussetzungen kann sich Zuwanderung als Chance erweisen?

Die Anschläge von Paris und das Aufkommen der fremdenfeindlichen Bewegung Pegida haben viele wachgerüttelt: Wir dürfen keine neuen Gräben zwischen den Kulturen zulassen. Christen, Juden, Muslime und Humanisten müssen gemeinsam eintreten für unsere freiheitliche Art, zu leben, und unser Grundgesetz: Gegen Extremisten im Innern und von außen. Zwei Dinge sind entscheidend: das Bekenntnis zur Offenheit und Vielfalt und die Klarheit über den Rahmen von Zuwanderung.

Wie wichtig ist ein klarer Rahmen für die Akzeptanz der Vielfalt?

Nur, wo Klarheit und Konsequenz herrscht, wird Vielfalt akzeptiert. Für die Bevölkerung muss transparent und nachvollziehbar sein, welche und wie viele Menschen aus welchen Gründen nach Deutschland kommen dürfen. Wenn unklar ist, unter welchen rechtlichen Bedingungen Zuwanderung stattfindet und ob die hier geltenden Gesetze auch vollzogen werden, dann wird die Bevölkerung das auf Dauer nicht akzeptieren. Das bedeutet auch: Wessen Asylantrag nicht genehmigt wurde, muss das Land verlassen. Kanada und Neuseeland sind erfolgreiche Einwanderungsländer mit großer Akzeptanz in der Bevölkerung. Sie haben vorgemacht, wie es geht, auch eigene nationale Interessen zu formulieren und durchzusetzen.

Also braucht Deutschland ein Einwanderungsgesetz?

Wichtig ist, dass es klare Kriterien gibt, die regeln, wer nach Deutschland kommen darf. Wer diese Kriterien nicht erfüllt, darf nicht einreisen. Oder er muss ausreisen und mit einem Einreiseverbot belegt werden. Der gesellschaftliche Konsens in klassischen Einwanderungsländern fußt auf diesen Regeln und der Gewissheit ihrer Einhaltung. Im Idealfall nehmen wir Visa- und Einreiseanträge in den Herkunftsländern entgegen und gewähren den Menschen, die nach Deutschland kommen dürfen, eine sichere Reise, während für die anderen klar wäre, dass ein Weg nach Deutschland zwecklos ist. Bei Asylanträgen in Deutschland braucht es schnelle Verfahren und die konsequente Umsetzung mit Ausreise oder Integration.

Die Flüchtlinge drängen über das Mittelmeer und werden von anderen europäischen Ländern nach Deutschland weiter geschickt. Was sagt das aus über den Zustand der EU?

Es ist äußerst wichtig, dass Europa in der Asylfrage mit einer Stimme spricht und zu einer einheitlichen Haltung findet, wer unter welchen Bedingungen in die Gemeinschaft der 28 Länder einreisen darf. Die Europäische Union muss in einer von wachsenden Spannungen geprägten Welt zusammen stehen und handeln. Leider können sich die Europäer im Augenblick nicht einmal über die Verteilung von Flüchtlingen untereinander verständigen. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen versagt Europa und das besorgt mich sehr.

Steht die Zukunft der EU auf dem Spiel?

Ich bin Optimist. Europa wird sich bewegen. Das lehrt uns die Geschichte. Wenn Europa große Herausforderungen zu meistern hat, findet es gemeinsame Lösungen. Kein Land kann sicher sein, nicht morgen schon die Hilfe der anderen zu benötigen. Diese Erkenntnis schmiedet zusammen.

Die Rolle von Ungarn

Und wenn nicht?

Wenn Europa diese gewaltige Herausforderung nicht gemeinsam meistert, werden nationalistische Tendenzen zunehmen und Abgrenzung untereinander wird wachsen. Dann wird die Stimme Europas in der Welt auf Dauer an Gewicht verlieren. Wir erleben eine Bewährungsprobe der europäischen Idee. Und Europa muss uns jede Anstrengung wert sein.

Ungarn hat einen Zaun zur Abschreckung gebaut und schickt Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland weiter. Haben Sie dafür Verständnis?

Wir leben in einer Rechtsgemeinschaft, Ungarn muss sich daran genauso halten wie alle anderen. Das wird durchzusetzen sein.

Muss Deutschland in der EU Vorbild sein für eine gute Integration?

International werden wir für unsere Integrationspolitik gelobt. Nun kommt es darauf an, ob es uns gelingt, die erfolgreiche Politik fortzuentwickeln. Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam handeln, es muss klar sein, dass wir für unsere Werte eintreten und jeder daran gemessen wird. Einer unserer zentralen Werte ist, dass Menschen, die in ihren Ländern verfolgt werden, bei uns Zuflucht erhalten. Das steht in unserem Grundgesetz. Wir Deutsche verstehen das als unsere humanitäre Pflicht. Es gibt eine große Willkommensbereitschaft. Ich bin voll Bewunderung für die Menschlichkeit und die Bereitschaft zur Hilfe einerseits und die Ablehnung von Hass und Häme durch die überwältigende Mehrheit unserer Bevölkerung andererseits. Die Deutschen haben verstanden, welchen Wert die Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten zu uns gekommen sind, für das Land haben.

Viele der Flüchtlinge sind Muslime. Werden sie Deutschland verändern?

In erster Linie verändert es die Muslime, die schon hier sind. Sie schätzen das freiheitliche und rechtsstaatliche Europa und die Vereinbarkeit mit dem Islam, so, wie sie ihn verstehen. Die große Zahl der Muslime in Europa steht zu den Werten unseres Landes. Wenn jetzt ihre Zahl wächst, dann wächst auch die Chance, den Islam insgesamt in der Welt positiv zu beeinflussen. Ich setze darauf, dass die Muslime in Europa diese Chance erkennen und nutzen.

Also haben die muslimischen Gemeinschaften in der Flüchtlingskrise eine besondere Verantwortung?

Ja, eine sehr große. Das Ziel der Muslime in Deutschland darf nicht nur sein, die Flüchtlinge in ihre Moscheen einzuladen. Sie müssen auch aktiv an der Integration mitarbeiten und ihnen die Werte unseres Landes vermitteln.

Werden Moscheen das Bild deutscher Städte in Zukunft ebenso prägen wie christliche Kirchen?

Wir sind ein christlich geprägtes Land, aber ich hoffe, dass Moscheen offen und sichtbar sind. Ich wünsche mir mehr Kontakte mit anderen Religionsgemeinschaften und einen Austausch, der die Gesellschaft insgesamt voran bringt.

Verstehen Sie, dass manche Menschen Angst davor haben, das Land könne sich zu stark verändern?

Unser Land darf sich im Kern nicht verändern. Glaubensfreiheit, Pluralität und Minderheitenschutz stehen in der Verfassung. Das christliche Abendland zu verteidigen, bedeutet im Kern auch, Notleidenden Herberge zu geben. Die Gleichheit vor dem Recht, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Staatsmonopol auf Gewalt: Auch das sind Werte unseres Landes, die nicht verändert werden dürfen. Ich wünsche mir, dass wir mehr und offener für diese Werte eintreten und sie damit auch stärken. Denn nur ein Land, das sich seiner Werte selbstbewusst vergewissert, ist stark genug, sie auch in Zeiten großen Zustroms Fremder zu bewahren.

Wie stehen Sie zu einem Verbot der Burka wie in Frankreich?

Rechtlich sind Bekleidungsvorschriften in einer freiheitlichen Gesellschaft schwierig, insbesondere in Abgrenzung zur Religionsfreiheit. Aber mich persönlich stört die Burka. Ich fände es gut, wenn die muslimischen Gemeinden darüber diskutieren würden, ob es zu Europa und zu unserer offenen Gesellschaft passt, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu verschleiern.

Ist die mangelnde Erfahrung der Ostdeutschen mit Freiheit und Demokratie der Grund dafür, dass es gerade hier so oft zu Protesten und auch zu fremdenfeindlichen Übergriffen kommt?

Wir hatten die schreckliche Mordserie des NSU und Todesopfer bei Brandanschlägen. Da gibt es null Verständnis für fremdenfeindliche Übergriffe. Ich bin zutiefst beschämt, wenn ich höre, dass in unserem Land Flüchtlingsheime in Brand gesetzt werden oder gegen Flüchtlinge Stimmung gemacht wird. Gleichzeitig ist richtig: Menschen sind dort offen für Fremdes, wo sie über lange Zeit gute Erfahrungen im Zusammenleben gemacht haben. Diese Erfahrung fehlt vielen Menschen in den neuen Bundesländern.

Dazu kommt, dass sie in den vergangenen 25 Jahren einen Umbruch bewältigen mussten, der schwerer ist, als sich das die Westdeutschen vorstellen können. Deshalb rate ich uns Westdeutschen zu größter Zurückhaltung bei der Beurteilung der Situation in Ostdeutschland. Aber ich erwarte auch, dass die Ostdeutschen darüber offen sprechen. Auch wir in den westlichen Bundesländern müssen allerdings darüber sprechen, wie wir mit Fremdem umgehen. Von den Angehörigen der Opfer der NSU wissen wir, wie lang der Glaube in ihrem Umfeld – und es war ein westdeutsches Umfeld – ausgeprägt war, dass die Morde in einem Banden- oder Schmuggelmilieu ausgeführt wurden und wie spät erst die Erkenntnis zugelassen wurde, dass es hier um organisierten Rechtsextremismus geht. Was wir da bis zur Aufdeckung erlebt haben, war nicht nur ein Staatsversagen. Das war ein Versagen der ganzen Gesellschaft.

Die Lehre daraus kann nur sein: Wir müssen alle Menschen, auch die zu uns kommenden, einbeziehen und gemeinsam gegen all die Kräfte vorgehen, die unsere freiheitliche Grundordnung bedrohen. Von welcher Seite sie auch immer das tun.

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