20 Jahre Mauerfall: 7. Mai 1989: Die Stimmaufgabe
Am 7. Mai 1989 wurde die letzte Kommunalwahl der DDR inszeniert – und erstmals wurde von Betrug gesprochen. In den 20 Jahren danach gab es viele freie Wahlen, aber betrogen kommt man sich in einigen Orten immer noch vor – zum Beispiel in Zuchau in Sachsen-Anhalt
Der Bürgermeister wusste es. Schon bevor die ganze Bundesrepublik informiert war und mit dem Finger auf seine Heimat zeigte. Auf die Magdeburger Börde, welliges Schwarzerdeland, das fruchtbarer ist als sonst wo und Bauern über Jahrhunderte zu Wohlhabenden machte. Auf ein Stück Deutschland zwischen Elbe und Harz, wo den Menschen vor 20 Jahren einer ihrer größten Wünsche erfüllt wurde: dass sie frei wählen durften. Auf Ossis, die von diesem Geschenk kaum Gebrauch machen.
Das ist ein Problem. Der Bürgermeister weiß sogar, wie sich das Problem anfühlt. Wie es sich für einen Wahlleiter eben anfühlt, wenn er an der Urne sitzt, früh ein paar Leute kommen, dann stundenlang niemand, nach dem Kaffeetrinken noch ein paar. Wenn er das Wahllokal in Zuchau abends schließt und die Namen all derer kennt, die nicht da waren. Ganz normal fühlt es sich an. Und das ist erst recht ein Problem.
Vor 20 Jahren löste ein Wahltag in der DDR, zu der Zuchau gehörte, Bewegung aus. Wie immer hatte vor den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 kein Wahlkampf stattgefunden, es gab keine konkurrierenden Parteien. Das Absegnen einer alternativlosen Kandidatenliste wurde „Zettelfalten“ genannt. Wer so mutig war, die Wahlkabine zu betreten, konnte dort auch nichts groß anrichten, da offiziell nicht bekannt war, wie man Stimmzettel mit dem Stift ungültig machte. Im Frühjahr 1989 riefen kirchliche Gruppen dazu auf, die scheinheilige Abstimmung zu boykottieren. Viele Menschen beobachteten die Auszählung der Stimmen. Die offiziell verkündeten Wahlergebnisse deckten sich nicht mit den Zählungen der Bürger. Erstmals wurde laut von Betrug gesprochen. Es gab Proteste, Verhaftungen.
Die Wende kam, der Mauerfall, eine neue DDR, die Bundesrepublik. Bei der Bundestagswahl 2005 gehörte Zuchau zum Wahlkreis 70, in dem mit 68,7 Prozent die wenigsten Bürger abstimmten. Im Dorf waren es gar nur 57 Prozent. Martin Giesecke, 53 Jahre alt, groß und hager, Lehrer für Biologie und Chemie an der Sekundarschule der Kreisstadt, ist seit 15 Jahren Bürgermeister und Wahlleiter. Nach dem Unterricht sitzt er in Jeans und Polohemd auf seinem Hof. Die Frühlingssonne des Wahljahres 2009 strahlt ihn an wie die Scheinwerfer den Kandidaten bei „Wer wird Millionär?“
Wählen die Leute nicht, weil sie (A) ganz andere Sorgen haben? Sind sie (B) von der Politik enttäuscht? Oder (C) wahlmüde? Meinen sie, dass sie (D) zwar eine Stimme, aber nicht das Sagen haben? Giesecke will sich nicht festlegen, und es gibt keinen Joker, der ihm hilft. Seine Frau stellt Kaffee und Kuchen auf den Gartentisch. Er sagt: „Bei der Bundestagswahl werden es wohl wieder so 50 Prozent sein.“ Die Frau fällt ihm ins Wort: „Nee, Martin, das schaffen wir nicht!“
Auch das 1031 Jahre alte Zuchau war einmal ein reiches Bördedorf. In der DDR war es reich an Leben. Die Leute arbeiteten in der LPG oder im Umland: im Schwermaschinenbau, im Metallleichtbau, in der Gelatinefabrik, im Traktorenwerk, im Förderanlagenbau. Am Feierabend beackerten sie billig gepachtetes Land, verkauften Gemüse und Vieh. Obwohl sie kaum 500 Einwohner waren, gab es im Dorf Gaststätten, Bäcker und Post, Kindergarten und Hort, Kosmetiksalon und Frisör, den Dorfkonsum gegenüber der Kirche. Für den wurde 1975 eine Verkaufsstellenleiterin gesucht. Man fragte Monika Gawlitza. Sie war Anfang 20, Chemiefacharbeiterin, Meisterin, hatte das Zeug, sich eine neue Welt zu erobern. Ohne zu zögern blieb sie in der Heimat.
Die Bilder von ihr, wie sie mit sieben Mitarbeiterinnen den Laden schmeißt, hat Zuchau in der Erinnerung abgespeichert: Sie verkauft Textilien, Kurz- und Haushaltswaren, Bürobedarf, Backwaren, schneidet Käse, wiegt Fleisch und Wurst ab. Sie wirbelt zwischen den Regalen, lacht mit großen, dunklen Augen die Kundschaft an. In Zuchaus Erinnerungen schimmert ihr langes schwarzes Haar blau, weil in den Erinnerungen immer die Sonne scheint. Monika Gawlitza steht für eine Zeit, da das Dorf noch eine Jugend hatte.
Für seine Jugend muss ein Dorf sich ins Zeug legen. Kaum hatte in den 70ern die LPG im größeren Nachbarort einen Neubau errichtet, zogen die jungen Zuchauer dorthin. Als in den 80ern in Berlin ein Wellenbad eröffnete, fuhren Zuchauer Eltern dorthin, um den Kindern etwas zu bieten. Zuchau war Zuhause, hinterm Ortsausgangsschild war die lockende Ferne. Schließlich führten Familienausflüge nach Leipzig, denn dort war Revolution.
Zuchau liegt nahe der Bahnstrecke Magdeburg – Halle in Sachsen-Anhalt. Statistiken ergeben, dass die Menschen hier im Durchschnitt um 6 Uhr 39 aufstehen, eher als in anderen Bundesländern. „Wir stehen früher auf“, lautet der Slogan, mit dem Sachsen-Anhalt für sich wirbt. Junge Leute fängt man mit diesem Slogan nicht. Um Zuchau herum blüht die Landschaft. Im Dorf ist es gemütlich. Wer Geld zum Leben verdienen will, muss weg. Der Bahnhof ist zwei Kilometer entfernt, die Internetverbindung schlecht. Knapp die Hälfte der Einwohner ist über 60, drei sind zwischen 16 und 18.
Bei den Volkskammerwahlen im März 1990 war im Dorf richtig was los. Es gab Gesetze, die freie, geheime Wahlen garantieren sollten, doch die euphorischen Leute hielten sich nicht dran und äußerten an der Urne munter Meinungen. „Ich wähle die Kommunisten!“, rief einer. „Stell dich trotzdem hinten an!“, brüllten andere. Jemand sagte zum Nachbarn: „Denk dran, du hast Schulden bei meiner Tochter, sie steht auch auf der Liste!“ Eine Frau dichtete: „Ich ruf euch zu:/wählt CDU!/Denn die allein hat’s Kapital/und hilft euch hoch nach dieser Wahl.“
Nach der Wiedervereinigung wurden auch die Verkäuferinnen im Dorfkonsum euphorisch. Elf Rollbehälter voller Waren standen morgens auf dem Hof! Sie packten sie aus wie Westpakete. „Wie das duftete“, erinnert sich Monika Gawlitza. Ihr Haar ist jetzt kurz und grau, ihr Körper rundlicher. „Die Euphorie hielt an, bis die Erste von uns gehen musste“, sagt sie. Sie wurden immer weniger, 1995 war die Verkaufsstellenleiterin mit den Westpaketen allein, dann sollte sie den Schlüssel abgeben. „Hier.“ Monika Gawlitza zeigt auf ihren Unterarm. Dort macht sich Gänsehaut breit.
Der Schreck wurde in der Nachwendezeit im Dorf zur Gewohnheit. Gaststätten, Post, Frisör, Kosmetik, Hort und Kindergarten verschwanden sowie ein Viertel der Bevölkerung. Die Politik nennt den Schreck das „Problem des ländlichen Raums“.
Bürgermeister Giesecke hat Geld aus dem Programm zur Dorferneuerung erobert, Fördertöpfe ausfindig gemacht, Straßen saniert, Konzepte für die Zukunft entworfen. „Nestpflege“ nennt er das. Das Nest taugt zum Museum. Es fehlt reales Leben. „Wir würden sofort wiederkommen“, sagen Kinder, die ihre Eltern besuchen, „wenn’s hier Arbeit gäbe.“
Anfang 1996 klingelte ein Getränkehersteller aus der Gegend bei Monika Gawlitza, wollte den Laden wieder eröffnen. Seitdem hievt sie Lieferungen, sortiert, verkauft, kalkuliert, putzt. Der Laden läuft. „Aber von Jahr zu Jahr schwerer.“ Etwa 30 Mal am Tag bedient sie die Kasse. „Ich würde mich so gern viel mehr drehen“, sagt sie. Sie könnte auch sagen: Es geht immer nur bergab. Bergab gehen ist eine einseitige Belastung. Monika Gawlitza hat Kraft. Sie nähme liebend gern einen Anstieg, würde mehr Kunden bedienen. Aber es gibt nicht mehr Kunden in Zuchau. Sie sagt: „Ich wünsche mir ein Neubaugebiet.“
Oft schaut ihr Mann im Laden vorbei. Er war Landmaschinen- und Traktorenschlosser, nach der Wende arbeitslos. Fünfmal hat er neue Arbeit gefunden, sich nicht drum geschert, was er gelernt hat, sondern angepackt, was da war. Als er 59 wurde, war die Tiefbaufirma, bei der er arbeitete, pleite. Das Arbeitsamt sagte, dass seine Chancen gleich Null sind. Er suchte weiter, dann sollte er auf Hartz IV. Ihm war, als würde man ihn am Rand der Gesellschaft parken. Er rief: „Ich habe 43 Jahre lang gearbeitet!“ Er ging in Frührente. Wegen der Jahre, die er vorzeitig ging, bekommt er 16,5 Prozent von der Rente abgezogen.
Er trägt immer noch Arbeitshose und Arbeitsjacke. Im Winter feuert er den Ofen im Keller, der das Wasser in den Heizkörpern des Lebensmittelladens erwärmt. Dann kommt er hoch, steht neben der Kasse. „Anstatt die 43 Jahre zu honorieren, die einer gerackert hat“, sagt er, „bestrafen sie den, der gezwungen ist, in Rente zu gehen.“ Gawlitza und seine Frau kämpfen gegen die Enttäuschung: Sie wählen nie wieder einen Bundestag.
Im Juni steht die Gemeinderatswahl an, die Europawahl, dann die Bundestagswahl, am Jahresende wählt Zuchau Vertreter der Verwaltungsgemeinschaft. „Ja, vielleicht sind sie wahlmüde“, sagt Martin Giesecke über die Leute in seinem Dorf. Vielleicht müsste er sie demokratiemüde nennen. Wenn sie die Schränke in seinem Büro sehen könnten, würden sie überhaupt nicht mehr verstehen, wie’s im Land läuft. Seit 1994 sammeln sich dort Ordner und Kladden, Verträge, Richtlinien, Formulare an. Wenn Giesecke im Papier blättert, ist er irgendwie abwesend, wenn er was erklärt, dann hört sich das immer so an, als könne man es nicht erklären. Selbst im Gemeinderat fühlen sie sich unzureichend informiert. Sie sagen ihm das. Er weiß es. Aber er benimmt sich, als wäre das alles nicht zu ändern.
Im Jahr 2005 musste sich Zuchau mit anderen Gemeinden zu einer Verwaltungsgemeinschaft zusammentun. Im Jahr 2007 hat es die Kreisgebietsreform hinter sich gebracht. Im Juni wird ein neuer Gemeinderat gewählt. Der hat nur noch bis Jahresende richtig was zu sagen, dann steht dem Dorf eine weitere Reform bevor. Der Gemeinderat heißt dann Ortsrat, wird keine Entscheidungsfreiheit mehr haben. Fast 30 Sitzungen hat der Bürgermeister hinter sich, um Bedingungen und Rechte für Zuchau zu klären. Er hat versucht, das Dorf aufzuklären. Von rund 330 Einwohnern kamen 40 Leute.
„Querstellen hat keinen Sinn“, hat Giesecke gesagt, „was soll Zuchau erreichen, wir sind doch so klein.“ Das stimmt. Ein Dorf bekommt 20 Euro pro Einwohner, wenn es freiwillig mitmacht. Man gleicht ihm zur Belohnung das Haushaltsminus aus. 200 Orte haben sich trotzdem gewehrt. Sie werden nun gezwungen, weil sie vorm Verfassungsgericht verloren haben. Die Zuchauer haben in einer Bürgeranhörung zugestimmt. Vielleicht hätten sie wenigstens ein gutes Gefühl gehabt, wenn sie sich zur Wehr gesetzt hätten.
Zu DDR-Zeiten hat Martin Giesecke nicht versucht, Politik zu machen. Er hat im Dorf Bäume gepflanzt. 1990 war er Anfang 30, fühlte sich geradezu berufen, in den Gemeinderat zu gehen. Zum „Neustart“, sagt er. Mehrere Gemeinderatsmitglieder, Männer in seinem Alter, die das Dorf mit ihm sozusagen hochgefahren haben, kandidieren bei der Wahl im Juni nicht mehr. Sie könnten ihren Unmut auf die neue Verwaltungsgemeinschaft schieben. Aber eigentlich kennen sie das, was sie erwartet, schon: Sie sitzen, diskutieren, fällen Beschlüsse, stellen dann fest, dass man nicht auf ihre Stimmen hört .
Erst vor Tagen haben sie sich gegen den Mobilfunkmast entschieden, der in die Wiese am Dorf gestellt werden soll. Sie haben das ausführlich begründet: Es gibt kein Gutachten über Gefahren, keins über die Notwendigkeit. Dann hat man ihnen mitgeteilt, dass sie nichts zu entscheiden hätten. Nächste Woche ist die Mobilfunkfirma im Dorf. Es gibt eine Infoveranstaltung. Dann wird der Mast aufgestellt.
Vielleicht würde die Bundesrepublik mit dem Finger auf Zuchau zeigen, wenn sie wüsste, dass sich die Menschen hier gegen Handys entscheiden. Mit dem Mobilfunk ist es ein bisschen wie mit der Demokratie. Du bist mit der Welt verbunden, bist dabei. Aber wenn das Telefon nicht klingelt, wenn keiner auf dich hören will, dann kannst du auch ausschalten.