Deutsch-Deutsche Geschichte: 327 Tote an innerdeutscher Grenze
Eine neue Studie des Forschungsverbunds "SED-Staat" zum DDR-Grenzregime gibt dessen Opfern Namen und Gesicht.
In der Nacht zum 21. April 1973 scheiterte in Marienborn ein Fluchtversuch. Drei Männer wollten mit einem Lkw die Grenzanlagen durchbrechen, das Fahrzeug krachte in die blitzschnell ausgefahrene Rollsperre und überschlug sich. Ein Insasse wurde aus dem Wagen geschleudert, die beiden anderen versuchten zu Fuß weiterzufliehen und wurden beschossen. Einer überlebte, der 1949 geborene Fred Woitke aber erlag seinen Verletzungen. Neun der 100 bei dem Vorfall abgegebenen Schüsse hatten ihn getroffen.
Woitke war einer der 327 Menschen, die nach neuesten Forschungen dem DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Grenze zum Opfer fielen. Ein Foto seines von einer Kugel durchschlagenen Sozialversicherungsausweises ist vorn auf dem Buch „Die Todesopfer des DDR- Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949 –1989“ (Verlag Peter Lang) zu sehen, das am Mittwoch in der Gedenkstätte Berliner Mauer vorgestellt wurde.
Es ist das Ergebnis einer fünfjährigen Arbeit des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin unter den Projektleitern Klaus Schroeder und Jochen Staadt, finanziert durch die Behörde von Kulturstaatsministerin Monika Grütters und die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen.
Insgesamt etwa 1000 Todesopfer des DDR-Grenzregimes
Die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes aufrechtzuerhalten, sei ein „zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur“, sagte Grütters bei der Vorstellung des Buches. Die Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen könne „motivieren, persönliche Handlungsspielräume nicht nur zu erkennen, sondern auch zu nutzen“.
Diese individuellen Schicksale prägen die in 684 Seiten dargebotenen Forschungen, die über Todesstatistik weit hinausgehen, die Opfer nicht in einer Zahl verschwinden lassen, sondern in Kurzbiografien vorstellen.
Nur etwa ein Drittel der Toten waren zivile DDR-Flüchtlinge. Dazu kamen Menschen wie ein 81-jähriger Bauer aus Niedersachsen, 1967 versehentlich auf DDR-Gebiet geraten und nach Detonation einer Mine verblutet. Erfasst wurden auch Suizide von DDR-Bürgern, die aus dem Grenzgebiet zwangsumgesiedelt werden sollten, und Fahnenflüchtige, die beim Fluchtversuch zu Tode kamen.
Und zu den Toten zählten die Wissenschaftler auch Grenzsoldaten, die von Fahnenflüchtigen, US-Soldaten, Angehörigen des Bundesgrenzschutzes oder versehentlich von eigenen Kameraden erschossen wurden.
Eine ähnliche Studie hatte es bereits 2009 für Berlin gegeben, die auf 139 Mauertote kam. Nur Schätzungen gibt es bislang zu den Toten in der Ostsee (etwa 200) und denen an den Grenzen zu den Ostblockstaaten (bis zu 300). Insgesamt müsse man, sagte Klaus Schroeder, von etwa 1000 Todesopfern des DDR-Grenzregimes ausgehen.