Sorge vor einer afghanischen Flüchtlingskrise: „2015 darf sich nicht wiederholen“
Nach dem Fall Kabuls rechnen Experten und die Kanzlerin mit vielen Flüchtlingen. Im Wahlkampf kann das vor allem für die Union zum Problem werden.
Das Bundesinnenministerium zeigt sich zugeknöpft. „Wir müssen sicherlich davon ausgehen, dass die Menschen sich in Bewegung setzen“, sagt eine Sprecherin von Horst Seehofer (CSU) am Montag in der Regierungspressekonferenz. Mit wie vielen Flüchtlingen aus Afghanistan zu rechnen sei, die den Taliban entkommen wollen, darüber will sie lieber nicht reden.
Denn vor allem in den Unionsparteien ist die Sorge vor einer neuen Flüchtlingskrise groß. Nicht nur Kanzlerkandidat Armin Laschet betont vor, im und nach dem CDU-Präsidium: „2015 darf sich nicht wiederholen.“
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Der Fall Kabuls weckt sofort Erinnerungen an den Bürgerkrieg in Syrien, der Hunderttausende in die Flucht trieb. Schon damals waren Afghanen die zweitgrößte Gruppe von Menschen, die in Europa Zuflucht suchte.
Weltweit zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ende letzten Jahres 2,6 Millionen afghanische Flüchtlinge – allein 1,4 Millionen Menschen in Pakistan, weitere 780 000 im Iran. Mehr als drei Millionen Afghanen sind im eigenen Land vor Terror und Krieg geflüchtet.
Mit der Rückkehr der Taliban brechen vor allem den Menschen die Perspektiven fort, die auf einen langsamen Weg ihres Landes in die Moderne gesetzt haben: Akademiker, Frauen, ganze Generationen westlich ausgebildeter junger Menschen. Wer in den letzten Jahren mit solchen Afghanen sprach, bekam zu hören: Wenn die Taliban zurückkehren, gehen wir alle weg.
Auf alten Schmugglerrouten sind schon Tausende unterwegs
Wie viele der 38 Millionen Afghanen sich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten tatsächlich auf den Weg machen werden, weiß niemand. Auf den alten Schmugglerrouten sind schon Tausende unterwegs. Manche Experten wie Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik der Uni Kiel, raten der Politik, sich auf viel mehr einzustellen: „Aus Afghanistan werden viele Menschen flüchten, ich vermute Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million oder mehr.“
„Viele Menschen werden das Land verlassen“, sagt auch Angela Merkel im CDU-Präsidium voraus. Die CDU-Spitze wollte sich eigentlich damit befassen, wie der Wahlkampf ihres Spitzenkandidaten in Schwung kommen kann. Doch das Drama am Hindukusch überschattet alles.
Und nebenher bekommt der Wahlkampf ein Thema zusätzlich. Es ist ein alter Bekannter. Die Positionen sind es auch. Dass Deutschland seine Ortskräfte und ihre Familien retten und umstandslos hierher holen müsse, dafür plädiert sogar AfD-Cochef Jörg Meuthen.
CDU-Mann Laschet will die Gruppe weiter ziehen. Der Kanzlerkandidat hat rasch einen Plan präsentiert, nach dem die Bundeswehr auch andere akut von den Gotteskriegern bedrohte Gruppen evakuieren sollte. Vor allem gelte das für Frauen, die sich für ein freies Afghanistan engagiert haben: „Bürgermeisterinnen, Abgeordnete, Menschenrechtsaktivistinnen, Journalistinnen“, zählt er nach der Gremiensitzung auf. Die SPD-Spitze schließt sich dem Katalog später an.
Das entspricht wohl nicht ganz zufällig den Gruppen, die im Mandatsentwurf der Bundesregierung für den Rettungseinsatz genannt werden. Den hatte Merkel am Vorabend den Fraktionschefs im Bundestag vorgestellt. Sie nennt intern die Zahl von 10 000 Menschen – Helfer, aus anderen Gründen besonders Bedrohte und deren Angehörige –, die die Bundeswehr holen soll.
Wie soll mit den Flüchtlingen umgegangen werden?
Wie über die unmittelbare Evakuierung hinaus mit Flüchtlingen umzugehen sei, darüber herrscht schon weniger Einigkeit. Die Differenzen folgen den bekannten Linien. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel fordert gleich, das Asylrecht auszusetzen. Der alte Hit kommt ihr gerade recht. Ihre Partei kam in den letzten Wochen politisch kaum vor.
Auf der anderen Seite des Spektrums hatte Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock schon am Wochenende darauf gedrungen, dass eine Allianz der Willigen aus der EU gemeinsam mit den USA und Kanada Kontingente für die Aufnahme von Flüchtenden vereinbaren müssten.
Laschet widerspricht. Dabei ist er unverdächtig, in Flüchtlingsfragen ein Hardliner zu sein. Vor einem Jahr war er auf Lesbos, um sich die üblen Zustände im Lager Moria mit eigenen Augen anzusehen. Er war auch einer der wenigen CDU-Spitzenleute, die Merkels Kurs im Flüchtlingsstreit immer unterstützt hatten.
Jetzt stützt sie im Präsidium ausdrücklich ihn. Von Kontingenten für Flüchtlinge halten beide nichts. Deutschland sollte jetzt nicht das Signal aussenden, dass alle kommen sollten, sagt Laschet hinterher vor der Presse. Nötig sei Hilfe vor Ort in den Nachbarländern, in die die Flüchtlinge zuerst kämen. Und die Hilfe müsse „diesmal rechtzeitig“ fließen, mahnt der CDU-Chef, „nicht wie 2015“.
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Tatsächlich war damals einer der Auslöser für die Massenbewegung nach Europa, dass westliche Staaten dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Mittel für die Versorgung der geflüchteten Syrer in den Lagern im Libanon kürzten. Dort wurde damals selbst das Essen knapp. An Schulbildung für die Kinder war nicht mehr zu denken. Viele machten sich auf den Weg.
„Wir dürfen die Fehler von 2015 nicht wiederholen“, sagt Laschet. Deshalb müssten der Iran, auch der Irak und allen voran Pakistan von den Europäern Hilfen für die Versorgung von Afghanistan-Flüchtlingen bekommen. Man dürfe da „keine Kosten scheuen“; er habe darüber auch schon mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gesprochen.
„Wir schulden denen etwas“
Noch gebe es alle Chancen, ein Szenario wie 2015 zu verhindern: „Wir müssen alles daran setzen, dass es nicht zu einer ungeordneten Migration kommt.“ Ob in diesem Fall Geld reicht, ist freilich nicht sicher. Pakistan droht schon seit längerem, keine Afghanen mehr aufzunehmen; sogar ein Grenzzaun ist im Bau.
Die Türkei als Zielland der Flüchtlinge, die über die Iran-Route kommen, aber nicht im Land der Mullahs bleiben wollen, ist jetzt schon das weltweite Flüchtlingsaufnahmeland Nummer Eins – gut vier Millionen Menschen, meist Syrer.
Der Migrationsexperte Gerald Knaus, geistiger Vater des EU-Türkei-Abkommens, sieht das Land denn auch an den Grenzen seiner Möglichkeiten. Knaus findet es darum richtig, den Erstaufnahmeländern zu helfen. Aber wenn es nach ihm ginge, würde Deutschland das eine – Hilfe vor Ort – tun und das andere - Kontingente bilden - nicht lassen.
Er erinnert an Vietnam. Nach dem Krieg habe es zwar lange gedauert. Aber zuletzt hätten die Invasionsstaaten USA und Frankreich ein Kontingentprogramm für die „Boat People“, die Bootsflüchtlinge aufgelegt. Auch die Bundesrepublik nahm damals Vietnamesen auf. Das könne ein Vorbild sein im Umgang mit Afghanen, die vor den Taliban flüchten, sagt Knaus: „Wir schulden denen etwas.“