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Say "Cheese": Das Gershwin-Musical „Strike up the Band“ feierte 1927 in den USA Premiere. In dem Stück zettelt Amerika einen Krieg mit der Schweiz an – wegen eines Streits über Zölle auf Käse. Die Realität ist der Satire auf den Fersen. Drei Monate lang verweigerte der US-Zoll einer Tonne französischen Mimolette-Käses (unser Bild zeigt ein Lager in Isigny-sur-Mer) die Einreise und entschied nun, er sei „als Nahrungsmittel nicht geeignet“. Bleibt zu hoffen, dass die am Montag beginnenden Gespräche über ein Freihandelsabkommen friedlich bleiben.
© AFP

Geplantes Freihandelsabkommen mit den USA: Wirtschaftsinteressen haben Vorrang vor Gefühlen

Beinahe hätten die Europäer aus Empörung über die NSA-Affäre ihre Interessen aus den Augen verloren. Glücklicherweise haben Merkel und Obama einen kühlen Blick für das, was auf dem Spiel steht. Die Verhandlungen über das Wirtschaftsabkommen können am Montag beginnen.

Das war knapp. Beinahe hätten die Europäer aus Empörung über ihre amerikanischen „Freunde“ ihre ökonomischen Interessen aus den Augen verloren und sich selbst geschadet. Der Zorn über das Ausmaß der Datenabschöpfung ist ja berechtigt. Aber wenn die EU deshalb die Gespräche über das Transatlantische Wirtschaftabkommen (TTIP) gestoppt hätte, wie Frankreich forderte, wäre zum Gefühl der Verletzung wirtschaftlicher Schaden hinzugekommen. Glücklicherweise haben Kanzlerin Merkel und Präsident Obama einen guten Draht zueinander und einen kühlen Blick für das, was auf dem Spiel steht. Die Verhandlungen über die Schaffung der größten Wirtschaftszone der Erde können am Montag beginnen. Parallel tagen Arbeitsgruppen, um die Datenaffäre aufzuklären. Europa und Amerika nutzen den Streit als Therapie für die Krise. Der Umgang mit Daten wäre in jedem Fall ein zentrales Kapitel bei TTIP geworden. Nun ist hoffentlich allen klar, wie sensibel damit umzugehen ist.

Auch beim Wirtschaftsabkommen geht es um die Frage, ob Europa und Amerika den Gang der Ereignisse lenken oder von ihnen gelenkt werden möchten, ob sie den Wandel gestalten oder erleiden wollen. Heute und in den nächsten Jahren dominieren sie die Weltwirtschaft noch, in 20 Jahren womöglich nicht mehr – es sei denn, sie tun etwas dafür. Gemeinsam stehen sie für etwa die Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts, 70 Prozent der Finanzdienstleistungen, 60 Prozent der Forschung und Entwicklung. Die bahnbrechenden Erfindungen kommen nach wie vor aus den USA und der EU.

Die Europäer werden nicht alle ihre Umwelt- und Verbraucherschutzsorgen durchsetzen können

Doch neue Mächte steigen auf, ganz voran China, dazu Indien, Brasilien und andere Länder. Es geht nicht darum, ihnen das zu verwehren, sondern Regeln für den fairen Wettbewerb zu entwickeln. Selbstverständlich vertritt die Bundesregierung dabei die Interessen ihrer Bürger, kämpft für deren Arbeitsplätze und soziale Sicherheit, versucht, deutsche Vorstellungen von Umweltschutz, gesunden Nahrungsmitteln, Sicherheitsstandards für Autos, Kindersitze, Computer, Patent- und Datenschutz durchzusetzen.

Das ist mit den USA nicht immer einfach, sonst gäbe es so ein Abkommen ja längst. Deutsche und Amerikaner haben unterschiedliche Vorstellungen über die richtige Balance zwischen Wachstum, Umwelt und Energieverbrauch, zwischen Terrorabwehr und Bürgerrechten, zwischen Wirtschaftsinteressen und staatlicher Regulierung. Doch die Gemeinsamkeiten zwischen der EU und den USA sind allemal größer als zwischen Europa und China. Peking versteht, dass jetzt Weichen gestellt werden, schließt Verträge über den Zugang zu Bodenschätzen in Afrika und Südamerika, sucht Freihandelsabkommen mit Nicht-EU-Staaten wie Island, der Schweiz und Norwegen.

Die EU und die USA sind sich viel näher. Sie praktizieren längst Freihandel, Zölle spielen kaum noch eine Rolle. Jetzt geht es um gemeinsame Standards und Regeln. Autos und andere Produkte werden preiswerter, wenn man sie nicht zwei Mal nach getrennten Sicherheitstests für Amerika und Europa zulassen muss. Jeder, der die USA besucht hat, weiß, dass man auch dort gesund essen und leben kann. Im Bankwesen, der Energiebranche, dem Agrarsektor wird Deutschland den Partnern nicht alle seine Wertvorstellungen aufzwingen können. Entscheidend ist, dass der Verbraucher die Wahl hat, zum Beispiel durch die Kennzeichnung genveränderter Lebensmittel.

Es wäre zu wünschen, dass TTIP eine ebenso breite Debatte auslöst wie die Datenaffäre. Dass Politiker und Wirtschaftseliten sich die Mühe machen, den Bürgern den Sinn dieses Abkommens in Talkshows und Debatten besser zu erklären. In der Datenaffäre stolperte die Aufklärung den Emotionen lange hoffnungslos hinterher. Nur langsam klärt sich der Blick, was an der US-Praxis in den Bereich des international Üblichen fällt und was tatsächlich empörend ist. Im Wirtschaftsabkommen geht es um noch mehr sensible Bereiche. Starke Gefühle sind gut, solange darüber die handfesten Interessen nicht aus den Augen geraten.

Christoph von Marschall

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