Plädoyer für einen Neuanfang der Beziehungen: Wir verlieren Russland
Schluss mit den Sanktionen! Russland muss wieder als Partner des Westens geachtet und akzeptiert werden. Russische Bürger müssen spüren, dass sie in Europa willkommen sind. Ein Gastbeitrag.
Dies ist ein Weckruf. Ein Weckruf an all jene in der Politik, die schlafwandelnd auf die Überlegenheit des Westens vertrauen. An diejenigen, die davon überzeugt sind, der Westen müsse endlich Stärke zeigen und seine Sanktionen verstärken. Auch an jene Ostpolitiker mit Augenmaß, die auf den Dialog setzen, aber überzeugt sind, ein Krieg sei ausgeschlossen und am Ende werde die Vernunft siegen.
Der Ruf kommt von jemandem, der weder „links“ noch „rechts“ steht und der nicht den Anspruch hat, Russland oder gar Putin verstehen und erklären zu können. Ich habe als Westdeutscher in den Zeiten des Kalten Krieges Slawistik studiert und arbeite seit fast 25 Jahren für und mit der russischen Zivilgesellschaft. Mit Menschen also, die sich in der Gesellschaft für gemeinsame Interessen in Kultur, Umwelt, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft engagieren.
Der Weckruf lautet: Wir verlieren Russland! Nicht nur die Führungselite rund um den Präsidenten Putin, nein, ein ganzes Volk, ein großes europäisch denkendes Volk. Ein Volk, das Europa insgesamt und Deutschland insbesondere schätzt, ja ihm bisweilen bewundernde Hochachtung zollt – trotz der Erfahrungen zweier Weltkriege und eines Kalten Krieges. Ein Volk, das als Befreier Deutschlands vom Faschismus entscheidend dazu beigetragen hat, dass wir Deutsche heute wieder in Einheit und Freiheit leben dürfen. Eine Nation wendet sich ab, die stets gehofft hatte, einmal im Westen anzukommen, als Partner geachtet und akzeptiert zu werden.
Niemand soll später sagen, man habe nichts gewusst oder bemerkt: Die Situation heute ist anders, aber keinesfalls besser als im Kalten Krieg. Ich jedenfalls habe in den achtziger Jahren niemals solche emotionale Verletztheit und Desillusionierung erlebt. Die große Mehrheit der russischen Bevölkerung fühlt sich nicht gehört und nicht verstanden. Die Menschen sind vom Westen enttäuscht, und sie wollen nicht mehr die ewigen Verlierer sein.
Gerade die oft liberalen Eliten zeigen sich enttäuscht und getroffen von dem europäischen Medien- und Meinungsbild
Natürlich wird man erwidern: Putin sei nicht das Volk. Russland habe schließlich den Konflikt begonnen. Die Menschen in Russland seien Opfer einer beispiellosen Propaganda. Ohne Zweifel ist die emotionale, patriotisch überfrachtete Berichterstattung für uns zutiefst befremdlich und beunruhigend. Aber täuschen wir uns nicht: Wir verlieren gerade diejenigen, die den Blick stets nach Westen gerichtet haben. Gerade die oft liberalen Eliten zeigen sich enttäuscht und getroffen von dem europäischen Medien- und Meinungsbild. Wir nämlich blenden aus, dass die Strategie des Westens (gibt es eine!?) der russischen Propaganda jede nur mögliche Hilfe erteilt. Durch Sanktionen, die von der russischen Bevölkerung als Strafe und Bedrohung empfunden werden, durch die Weigerung, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen, durch die Überheblichkeit, mit der man sich im Besitz der besseren Werte wähnt, und durch doppelte Standards. Diese Politik bringt die russische Nation in ein bisher nicht gekanntes Bündnis mit der Macht und bereitet das Feld für Scharfmacher jeglicher Couleur.
Paradox, ja verhängnisvoll scheint es, dass wir offensichtlich wie selbstverständlich davon ausgehen, dass diejenigen die Lage beruhigen werden, die wir tagtäglich als Hauptschuldige der Krise identifizieren. Sicher, niemand will Krieg, weder in Russland noch im Westen. Aber hatten wir das nicht schon einmal vor 100 Jahren? Aber wer vor Ort arbeitet, weiß und erfährt täglich: Für Russlands Menschen steht weit mehr auf dem Spiel als Wohlstand, Geopolitik, Gas und Öl. Beinahe jeder in Russland hat Verwandte oder Freunde in der Ukraine, die nach dem Ende der Sowjetunion ein Stück weiter in die Ferne gerückt waren und nun ganz verloren zu gehen drohen. Beinahe jeder in Russland hat im Kampf gegen Nazi-Deutschland Menschen aus seiner Familie verloren. Diese Traumata sitzen tief, sie rühren an Emotionen und schüren Ängste, die im Westen niemand in dieser Kraft vermutet. Und plötzlich werden aus Deutschen wieder Nazis und aus Freunden wieder Fremde.
Wäre es nicht an uns Deutschen, die vielfach von der Geschichte und von Russland beschenkt wurden, jetzt dafür zu kämpfen, den Mut des ersten Schrittes zu wagen? Wir müssen aufhören, durch Vorwürfe, Schuldzuweisungen und immer neue „rote Linien“ unsere eigenen Prognosen zu erfüllen! Wir müssen handeln, und zwar schnell.
Ich appelliere an alle Akteure im Westen, jetzt gerade paradox zu intervenieren! Russlands Wahrnehmung reagiert mehr, als der Westen denkt, auf Symbole, Gesten der Würdigung und versöhnende Zeichen. Setzen wir hier an mit einer Politik der verstärkten Dialoge auf allen Ebenen – in der Politik, in der Wirtschaft und besonders in der Gesellschaft. Ein Petersburger Dialog ist jetzt wichtiger denn je. Die Wirtschaftssanktionen müssen fallen. Russische Bürger müssen spüren, dass sie in Europa willkommen sind. Verspielen wir nicht dieses Kapital für Frieden und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
- Der Autor ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied im Deutsch-Russischen Forum e. V.
Martin Hoffmann