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Andrea Nahles
© dpa

Rente mit 63?: Wir brauchen eine Altengleitzeit

Die Frage, ob die Rente mit 63 finanzierbar ist, geht an dem eigentlichen Problem vorbei, meint unser Autor. Viel wichtiger wäre nämlich eine Debatte über die Abschaffung des starren Eintrittsalters.

Welche Talkshow auch immer – man muss gar nicht umständlich in Zeitungen suchen, welches Thema diesmal dran sein mag. Denn es ist in diesen Wochen (fast) immer das gleiche: Rente. Sind die Pläne der großen Koalition gerecht? Sind sie finanzierbar? Gehen sie auf Kosten der Jüngeren? Rente, rauf und runter, runter und rauf. Die Argumente sind so vielfältig wie die Zahl der Diskutanten, die Meinungen höchst widersprüchlich, und am Ende aller Debatten wird man den Eindruck nicht los, dass die Segnungen des Rentenpakets ungefähr ebenso groß sind wie dessen Mängel.

Am interessantesten an dem großen Streit aber ist, worüber dabei nicht gesprochen wird. Die Diskussion beschränkt sich nämlich ganz und gar auf die finanziellen Aspekte. Und tut dabei so, als hätten sich die Lebenswelten der 60- und 70-Jährigen in den vergangenen Jahrzehnten nicht grundlegend geändert. Als wären die Ruheständler von heute noch immer mit jenen vergleichbar, die vor einem halben Jahrhundert in Rente gingen: abgearbeitet, müde, zukunftslos, mit einer Lebenserwartung von wenigen Jahren. Genau das aber hat sich seit langem gründlich geändert.

Die Einteilung des Lebens in drei Abschnitte – Kindheit, Erwerbszeit, Alter – ist obsolet geworden

Wer heute in den Ruhestand geht, hat noch ein beträchtliches Lebensstück vor sich, im Schnitt bald 20 Jahre. Längst ist die herkömmliche Einteilung des Lebens in drei Abschnitte – Kindheit, Erwerbszeit, Alter – obsolet geworden. Ein viertes Lebensalter hat sich dazwischen geschoben, die Zeit zwischen dem 65. und dem 80. Jahr, mit dem statistisch das Greisenalter beginnt. Solche jungen Alten gibt es millionenfach, sie sind körperlich und geistig in ihrer Mehrheit gesund, leistungsfähig, unternehmungslustig und wirken keineswegs so, als dämmerten sie ihrem Ende entgegen. An diesen Millionen von Menschen geht die momentane Debatte vollkommen vorbei. Was derzeit so wortreich diskutiert wird, ist ein einziger Anachronismus.

Denn eine moderne Rentendebatte, eine, die der Wirklichkeit Rechnung trägt, müsste ein ganz anderes Thema in den Mittelpunkt stellen. Es hieße: Flexibilisierung. Das starre Renteneintrittsalter mit 65 (und von 2029 mit 67) ist eine Regelung, die ins vergangene Jahrtausend gehört. Natürlich ist es schon heute nicht verboten, über die 65 hinaus zu arbeiten. Aber viele Tarif- oder Versicherungsverträge erschweren das enorm, so dass faktisch oft doch eine feste Altersgrenze existiert. Genau darüber wäre nun zu reden: Wie kann der neuen Wirklichkeit entsprochen werden? Wie könnte es gelingen, Menschen über die Altersgrenze hinaus zu beschäftigen, wenn sie es wollen? Und zugleich jene, die im Alter an ihr Leistungslimit gelangen, schon früher in den Ruhestand zu entlassen?

Schweden hat es vorgemacht

Eine Altengleitzeit also, mit geringerer Stundenzahl und damit gewissen Einkommenseinbußen möglicherweise, eine Öffnung nach vorne und auch nach hinten. Sage niemand, das sei unter den Gesichtspunkten der Rentenmathematik ein allzu schwieriges Unterfangen. Schweden hat es schon 1999 vorgemacht. Wer will, kann dort bereits mit 61 abschlagsfrei in Rente gehen, und wer länger am Arbeitsplatz bleiben möchte, kann das auch. Im Durchschnitt hat diese Regelung in Schweden den Eintritt in den Ruhestand auf 65,7 Jahre angehoben (in Deutschland liegt er faktisch etwa bei etwa 61). Allein das zeigt, wie groß das Interesse oder die finanzielle Notwendigkeit für Altersarbeit ist. Auch Großbritannien hat Konsequenzen aus der demografischen Entwicklung gezogen und 2011 das gesetzliche Rentenalter abgeschafft.

In Deutschland ist davon, sieht man einmal von vereinzelten Rufern in der Wüste ab, weit und breit nicht die Rede. Der Plan der großen Koalition, eine 45-jährige Lebensleistung mit der Rente ab 63 zu honorieren, trifft nicht ins Zentrum des Problems. Es ersetzt nicht die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage, welche Perspektiven in einer alternden Gesellschaft eröffnet werden sollten. Zumal zu Zeiten, in denen der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften beklagt wird. Die Debatte darüber hatte längst schon beginnen müssen. Nicht nur der Arbeitsmarkt schreit förmlich danach. Auch die Menschenfreundlichkeit. Denn die derzeitige Regelung macht aus Menschen altes Eisen – auch wenn es noch keinerlei Rost angesetzt hat.

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