Münchhausen by internet: Wie krank ist das denn?
Belle Gibson hatte Krebs. 2009 erhielt sie ihre Diagnose. Die Chemo blieb erfolglos, rasch breitete sich die Krankheit im Körper aus, befiel Hirn und Gebärmutter, Leber und Milz.
Von ihrem Leiden, von den Ängsten und Hoffnungen berichtete die Australierin detailliert auf Twitter und Instagram, Zehntausende folgten – und freuten sich, als endlich eine Therapie anschlug. Keine Bestrahlung, sondern ein exotischer Mix aus vitaminreicher Ernährung, Sauerstoff-Inhalation, Darmspülungen und Ayurveda-Behandlungen half der mittlerweile 23-Jährigen. Dazu ganz viel Liebe, schrieb Gibson in einem Tweet. Damit andere Betroffene ihren gesunden Lebensstil nachahmen konnten, entwickelte sie eine App mit genauen Instruktionen. Das Programm verkaufte sich 300 000 Mal. Die Zeitschrift „Elle“ kürte Gibson zur inspirierendsten Frau des Jahres 2014.
Nun hat sich herausgestellt, dass alles gelogen war. Belle Gibson hat keinen Krebs und auch nie welchen gehabt. Dafür aber eine andere, deutlich seltenere Krankheit namens MBI. Das steht für „Münchhausen by internet“, ein Syndrom, das der US-Psychiater Marc Feldman vor 15 Jahren erstmals beschrieb.
Zwanghaftes Lügen im Netz. Von seinem Pendant im realen Leben unterscheidet es sich dadurch, dass es leichter und effektiver vonstattengeht. Der Scheinkranke kann seine Symptome einfach behaupten. Die Zahl derer, die er mit seiner Geschichte täuscht, ist deutlich größer, und damit die Anteilnahme. Mithilfe von Zweit- und Drittaccounts lassen sich zudem fiktive Freunde erschaffen, die online mitdiskutieren und jede Krankengeschichte bezeugen. Oder, im extremsten Fall, den qualvollen Tod des Erkrankten verkünden, was aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer gewaltigen Flut an Trauerbekundungen führt.
Ein bisschen verlockend klingt es schon. www.sebastian-hat-typhus.de wäre noch frei. Aber lohnt sich der Aufwand? Marc Feldman, der US-Psychiater, glaubt nicht, dass sich MBI-Erkrankte bloß nach Aufmerksamkeit sehnen. Wahrscheinlich gehe es auch darum, das eigene Leben kontrollierbar zu machen. Nämlich dadurch, dass man das Bild, das Mitmenschen von einem haben, und deren Reaktionen steuern kann. Belle Gibson hat zudem an ihrer Lügenbiografie gut verdient: Die App machte sie zur Millionärin. Ein Viertel der Einnahmen wollte sie an wohltätige Organisationen spenden. Dass diese das versprochene Geld nie bekamen, erregte schließlich Misstrauen. Nur so flog der Schwindel auf.
Über die Verbreitung von MBI gibt es noch keine zuverlässigen Zahlen. Bei Marc Feldman melden sich regelmäßig Menschen, die behaupten, an genau diesem Symptom zu leiden. Wobei nicht auszuschließen ist, dass manche der Bekenntnisse schlicht gelogen sind.
In anderen Fällen entlarven sich MBI-Kranke ungewollt, weil sie in zu kurzer Zeit zu viel Leid behaupten. Zum Beispiel die 37-jährige Amerikanerin, die ihrem Blog zufolge erst von ihrem Mann verlassen wurde, dann Leukämie bekam, wobei der Krebs ihr Herz schädigte, was zum Schlaganfall führte, der sie zwischenzeitlich ins Koma brachte. Während der anschließenden Reha-Maßnahme wurde sie von der Pflegerin misshandelt. Hinzu kamen eine Bauchfellentzündung und Bakterienbefall. Lange traute sich keiner ihrer treuen Leser, Zweifel zu äußern ob so viel geballten Unglücks. Dann durchsuchte eine Freundin das Facebook-Profil der Frau und stutzte. Das Netzwerk protokolliert, wenn sich ein Nutzer zwischendurch die Zeit mit Online-Spielen vertreibt. Die Todgeweihte hatte laut Facebook auch an Tagen gespielt, an denen sie offiziell im Koma gelegen hatte.
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