Volksentscheide in Berlin: Wenn’s schiefgeht, ist der Wähler schuld
Bürgerbegehren sind ein mächtiges Instrument direkter Demokratie. Doch was als Recht für den Bürger gedacht ist, wird von Parteien und Lobbyverbänden gekapert. Ein Kommentar.
Jeder hat das Recht, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Zum Glück! Eine direkte Beteiligung der Menschen an Entscheidungsprozessen ist ein wert- und wirkungsvolles Instrument einer Demokratie. Bürger treffen auf Augenhöhe mit dem Parlament Entscheidungen. Doch zunehmend kapern Parteien und Lobbyverbände dieses Mittel direkter Demokratie für ihre Zwecke. Umso mehr lohnt ein Blick darauf, wer hinter solchen Initiativen steckt.
Beim „Bürgerbündnis für mehr Videoüberwachung und mehr Datenschutz“ sind das zum Beispiel vier Personen: die Geschäftsführerin eines Immobilienverbandes, eine Vertreterin der Polizeigewerkschaft, der ehemalige CDU-Justizsenator Thomas Heilmann, der für den Bundestag kandidiert, und Neuköllns früherer SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky. Sie alle haben Interessen, die über die eigentliche Sache hinausgehen: Arbeitserleichterung, Wahlkampf und Aufmerksamkeit. Dieses Lobby-Quartett als Bürgerbündnis zu verkaufen, ist eine Farce, Zustimmung in Umfragen hin oder her.
Bürgerbegehren sollten auch wirklich den Bürgern vorbehalten sein
Auf breiteren Füßen steht die Kampagne für die Offenhaltung des Flughafens Tegel im Berliner Norden. Sie ist allerdings so eng mit der FDP verknüpft wie der BER im Süden mit Verzögerungen. Dabei sollten solche Begehren denen vorbehalten sein, die jenseits der Wahltage keine Mittel der Mitbestimmung in der Hand halten, die nicht in Gewerkschaften, Lobbyverbänden oder Parteien organisiert sind: den Bürgern. Die FDP muss sich als Oppositionspartei für ihre Anliegen Gehör verschaffen. Das muss ihr aber durch parlamentarische Arbeit gelingen, denn dafür wurde sie gewählt.
Die Grünen haben sich dankbar an die Seite des tatsächlich unabhängigen, aus einem Bürgerinteresse heraus entstandenen Volksentscheid Rad gestellt. Es ist schön, wenn solche Anliegen politische Fürsprecher finden. Aber noch mal zur Erinnerung: Die Grünen regieren gerade mit. Sie sollen in erster Linie gestalten, nicht Stimmung machen.
Das Bürgerbündnis wird zum Schutzschild für eigene Entscheidungen
Selbstverständlich gehört es zum Polit-Betrieb dazu, Mehrheiten herzustellen und Fraktionen zu bilden, um Vorhaben in Taten umzusetzen. Aber innerhalb des parlamentarischen Systems bitte. Das heißt nicht, dass Parteien nicht auf Initiativen reagieren sollen, und wenn Bürger nach Partizipation rufen, dann sollte das erhört werden. Der Volksentscheid zum Tempelhofer Feld war ein gutes Beispiel dafür, wie das funktionieren kann.
Wenn sich aber politische Akteure einer Initiative anschließen oder sie gar selbst ins Leben rufen, machen sie sich direkte Demokratie dort zu eigen, wo sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der parlamentarischen Demokratie agieren sollten.
Das Bürgerbündnis wird zum Schutzschild für eigene Entscheidungen, frei nach dem Motto: Wir machen selbst die Stimmung, mit der wir unser Handeln rechtfertigen. Und wenn’s schiefgeht, ist der Wähler selbst schuld gewesen. Das ist mutloses Regieren, damit ducken sich die Akteure vor ihrer Verantwortung weg. Und es ist unnötig. Es würde ja schon reichen, der Stimmung in der Stadt zu horchen, die die Politik nicht selbst gemacht hat.