Europa und die Polizeigewalt in der Türkei: Wenn Worte fehlen
Europa ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein kulturelles Projekt. Wenn seine Politiker diesen Anspruch ernst nehmen wollen, müssen sie endlich zu einem klaren Standpunkt gegenüber Erdogan und den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei kommen.
Der Taksim-Platz von Istanbul liegt in Europa. Nicht in der Mitte, doch ebenso in Europa wie das Zentrum von Lissabon oder Dublin. Aber Europas regierende Politiker finden kaum Worte für das, was sich augenblicklich, von Istanbul ausgegangen, in der ganzen Türkei ereignet.
Es ist ein Aufstand aus der Mitte des städtischen Bürgertums, ein Aufstand der Zivilgesellschaft gegen Bevormundung, Zensur, ökonomische Willkür und politische Selbstherrlichkeit. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan lässt den Protest niederknüppeln, setzt Platzpatronen und Gasgranaten auch gegen Frauen und Kinder ein. Die am Wochenende in Istanbul mitgetroffene Grünen-Politikerin Claudia Roth nennt das Krieg. Bürgerkrieg von oben.
Die EU tut sich schwer, die richtigen Worte zum harten Vorgehen der Polizei in Istanbul zu finden
Angesichts dessen fordert Catherine Ashton, die Außenbeauftragte der Europäischen Union, ein „verstärktes Engagement“ und kritisiert „zu viel übermäßigen Polizeieinsatz“. Die Bundeskanzlerin zeigt sich „erschrocken“, denn Erdogans Vorgehen sei „viel zu hart“, während Außenminister Guido Westerwelle von einem „falschen Signal“ spricht. Als ginge es um fehlerhafte Ampelmännchen.
Natürlich gibt es die Sprache der Diplomatie. Aber das ist: überhaupt keine Sprache. Man erkennt daran, wie schwer sich Brüssel, Berlin und die Nordeuropäer tun, wenn auf diesem Kontinent die eigene politische Kultur infrage gestellt, verletzt oder angegriffen wird. Nach der Brüsseler Überreaktion vor Jahren gegen Österreich wegen des Rechtspopulisten Jörg Haider fällt die Verteidigung demokratischer Grundwerte innerhalb der EU und an ihren Rändern offenbar schwer. Siehe die Sprachlosigkeit gegenüber Italien zur Zeit Silvio Berlusconis. Siehe die Ratlosigkeit gegenüber dem Ungarn Victor Orbans. Und Griechenland, jenseits des Sommertourismus, ist vielen Hekuba, ist nicht mehr Quelle der europäischen Kultur und Demokratie, sondern ein finanzpolitisches Ärgernis (und Rätsel) hinter dem ohnehin schon unheimlichen, unbegreiflichen Balkan.
Erdogan verspielt seine Legitimität
Manche eiern und meinen, was Erdogan da am Bosporus und in Ankara treibt, ist zwar unschön, aber er sei doch von gut der Hälfte seiner Landsleute frei gewählt und habe ihnen einige Sicherheit und mächtigen neuen Wohlstand gebracht. Wohl wahr. Trotzdem ist dieser noch eben legitime Ministerpräsident dabei, alle Legitimität zu verspielen. Erdogan, der die Demonstranten Gesindel und Terroristen schimpft und in den ausländischen Medien Agenten sieht, er bricht ja auch türkisches Recht: wenn er Ärzte verfolgt, die Verwundeten helfen. Wenn er gegen Rechtsverstöße protestierende Anwälte verhaften lässt. Wenn er die Meinungsfreiheit auf der Straße und im Fernsehen unterbindet. Menschenrechte gelten, in weiteren Grenzen als momentan erkennbar, auch in der Türkei.
Was in der Türkei passiert, geht uns alle an
Diese essenziellen Rechte muss die EU, muss Berlin jetzt offen einklagen. Erdogan ist kein Mann für leise Worte. Die westeuropäische Sprachlosigkeit aber hat auch zu tun mit der bestürzenden Unfähigkeit, Europa nicht nur als ökonomisches Projekt, sondern als gemeinsames kulturelles Erbe und sich selbst als Wertegemeinschaft zu verstehen. Auf die Türkei, die von der EU sehr lange auf Distanz gehalten und so zu sehr womöglich gen Osten, gen Asien hin abgeschoben wurde, auf die Türkei fällt aus Zentraleuropa noch immer der orientalistische Blick. In Istanbul und Ankara aber demonstrieren keine Post-Osmanen und keine Exoten. Sondern Europäer, auch Weltbürger. Darum geht uns das alle an.
Peter von Becker