Kontrapunkt: Wecken, bitte, Herr Thierse!
So anregend, und so herrlich weit weg von der spießigen Heimat suchen die Jungen das Glück in der Großstadt. Einst auch Wolfgang Thierse. Wie er lernte, "Schrippen" zu sagen.
Der alte Mann ist zufrieden. Er krault sich mit den Fingern in seinem zauseligen Bart und brummt. Eben ist er bei seinem Bäcker in Prenzlauer Berg gewesen, um Schrippen zu kaufen. Der alte Mann liebt den Duft frischer Backwaren, und er mag diese vielen jungen Leute, die er beim Bäcker trifft, manchmal redet er mit ihnen. Und wenn er besonders gut aufgelegt ist, dann sagt er „diese Kids“ und lacht. Er versteht nicht alles, was sie sagen, auch weil seine Ohren …, nun ja, er wird 70 in diesem Jahr; zudem sprechen einige von den Jungen ein Idiom, das ihm merkwürdig fremd erscheint.
Doch so viel hat sich der Alte gemerkt: Dass die Jungen dieses Berlin lieben, sein Berlin, sie sind vor der Enge ihrer spießigen Heimat geflohen, sie suchen das Glück in dieser Großstadt, die so vieles zulässt und so viele aufnimmt, und wenn sie ihm das erzählen, von ihren Hoffnungen, ihren Träumen, so naiv, so rührend, dann wird ihm warm ums Herz.
Er erkennt sich wieder. Ist dies nicht seine eigene Geschichte, sein Lebenslauf?
Auch er ist ja nicht hier geboren, sondern im fernen Osten. Auch er ist weit weg von Berlin zur Schule gegangen, im Süden der Republik, er machte dort Abitur, eine Lehre. Und dann der Aufbruch nach Berlin, Humboldt-Universität, Germanistik und Kulturwissenschaften. Brotlose Kunst, das schon, aber so aufregend, so anregend, und so herrlich weit weg von zu Hause! Er war 21 Jahre alt, ein Neuberliner, er fühlte sich wohl, er lernte „Schrippe“ sagen.
So ging die Zeit dahin, die Mauer fiel, eine Satirezeitschrift nannte den Mann nur noch „Ossi-Bär“, er wurde berühmt, sein Gesicht kam in der Tagesschau.
Zufrieden mit sich trägt der alte Mann die knusprigen Schrippen in seine Wohnung, Prenzlauer Berg, so vertraut alles. An Tagen wie diesen kramt der Alte gern mal in den Schränken. Die Fotos von der Hochzeit, in Badehose am See, der da, wie hieß der noch gleich, Heinz? Schulzeugnisse. Der Bundestag, ich im Bundestag, die Glocke in der Hand! Und hier, die Urkunde vom Theodor-Heuss-Preis. Er ist noch immer stolz, wenn er daran denkt, diese Ehre, gut zehn Jahre her, er krault sich den Bart.
Die Jungen beim Bäcker, fürchtet der alte Mann, kennen Theodor Heuss nicht mehr. Von 1949 bis 1959 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, ein Erzliberaler, ein Philosoph, vor allem aber: ein Urschwabe. In Brackenheim geboren („Braggena“ sagen die Einheimischen), in Stuttgart begraben. Heuss hat, so erklärte man ihm bei der Preisverleihung, sogar seine Doktorarbeit über schwäbischen Wein und schwäbische Weingärtner („Wengerter“ sagen die Einheimischen) geschrieben, diese Verbundenheit mit den eigenen Wurzeln hatte den Berliner tief bewegt.
Wie der alte Mann so kramt und daran zurückdenkt, brummt er „Potztausend, diese Schwaben!“ Denn er ist Katholik, und als man ihm den Theodor-Heuss-Preis überreichte, sagte ihm jemand bei einem Glas Wein („Viertele“ sagen die Einheimischen), jeder könne im Schwäbischen beim Bäcker eine frische Seele kaufen. Eine Seele! Der damals noch nicht ganz so alte Mann hob zu einer ins Metaphysische schweifenden Tirade an, derlei Materialismus sei das Ende vom Ende, er als Katholik könne da uswusf.
Dann wurde ihm erklärt, die schwäbische Seele sei ganz ernsthaft („Koi Witzle“ sagen die Einheimischen) ein Brötchen aus Dinkelmehl, mit Kümmel und grobem Salz bestreut, der Name rühre vermutlich vom Brauch her, an Allerseelen an den Gräbern Opfergaben niederzulegen. Ob es diese Köstlichkeit denn nicht bei ihm in Prenzlauer Berg gebe? Schrippen, hatte der Alte geantwortet, er esse grundsätzlich nur Schrippen.
Er kramt noch ein wenig herum, stellt die Fotoalben zurück, den Theodor-Heuss-Preis gerahmt. Er legt sich kurz ins Bett und ruft in Richtung Küche, „18 Uhr“. „Was ist um 18 Uhr?“, schallt es zurück. „Wecken, bitte“, brummt der Alte und fällt in den Schlaf.
Norbert Thomma
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