Land der Fairness: Was wir von den Briten immer noch lernen können
Fairness ist typisch britisch, Gleichheit und Gerechtigkeit sind eher deutsche Ideale. Was können wir vom Ursprungsland des Sportsgeistes lernen? Ein Essay zum Start der Olympischen Spiele.
Wenn der Sportsgeist mächtig wäre, könnte es bei diesen Olympischen Spielen einige Überraschungen geben. Zweit-, Dritt- oder sogar Viertplatzierte zum Beispiel, die sich beim Schiedsrichter für dessen starke Leistung bedanken. Dopingkontrolleure, die einfach nach Hause gehen, weil sie sagen, sie werden hier nicht mehr gebraucht. Und vielleicht ließe sogar mal ein Läufer dem anderen vor der Ziellinie mit galanter Handbewegung den Vortritt: Du hast es mehr verdient als ich.
Olympia kehrt ins Land des Sportsgeists zurück. In England wurden nicht nur viele der Sportarten erfunden, in denen sich von Freitag an zweieinhalb Wochen lang in London die Welt misst. In England wurde auch der Geist geboren, der Sport zu mehr macht als zum Wettbewerb, wer als Erster im Ziel ist. Dieser Genius Loci soll nun die Olympischen Spiele in London beseelen.
Doch der Geist ist flüchtig, man muss ihn suchen und genau hinschauen, was überhaupt noch übrig ist von Sportsmanship und Fair Play. Der Sportsgeist wurde vor diesen Spielen sogar schon gegen den Erfolg ausgespielt. „Der britische Sinn für Fair Play kostet uns den Heimvorteil bei den Olympischen Spielen“, titelte die „Daily Mail“ und berief sich auf mehrere britische Sportverbände. Die hatten sich beschwert, dass sie nicht unbegrenzt in den olympischen Sportstätten trainieren durften. Die Australier hätten das vor den Spielen in Sydney 2000 doch auch getan, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Zu viel Fair Play erscheint wohl inzwischen selbst manchen Briten suspekt.
Der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer sieht die Spiele in London auch in einer Falle, denn auf sie wirkt eben nicht nur der Sportsgeist: „England ist das Land der Londoner City. England zieht größte Verdienste daraus, dass sich Hedgefonds und Private-Equity-Firmen niedergelassen haben, die ihre Kunden über den Tisch ziehen, die Finanzmanipulation erfunden haben. Von diesem Höhepunkt des Spätkapitalismus sollte sich der Sport möglichst nicht anstecken lassen.“ Von der Ökonomie aber ist er schon lange infiziert. Olympische Spiele funktionieren nach dem Mechanismus des Marktes: Gewinn und Verlust. Doch umso spannender ist die Fahndung nach dem Verborgenen. Dem Geist des Sports. Und die Frage, welche Relevanz er eigentlich über das Stadion hinaus für die Gesellschaft besitzt.
Der Sport begann in England im 18. Jahrhundert weit oben, in den adligen, gebildeten, vermögenden Schichten. Sport war nicht nur Zeitvertreib, Körperbildung oder Wettkampf allein. Sportlich zu sein war eine noble Haltung. Sie schloss den Respekt vor sich selbst und dem Gegner ebenso ein wie das Streben nach Vielseitigkeit.
Auch der Begründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, der Franzose Pierre de Coubertin, lernte von den Engländern. Coubertin war vor allem Pädagoge und bei der Entwicklung seiner Idee vom Treffen für die Jugend der Welt inspirierte ihn ein Aufenthalt in England. „Der Sport scheint doch unmissverständlich ein moralisches Ideal zu verkünden“, erklärte er, „es beruht auf der Härte gegen sich selbst und auf der Liebe zum anderen.“
Die Tour de France als Gegenentwurf.
Die englischste aller Sportarten ist wohl Cricket. Für andere mag die Sportart ein Rätsel sein, die Spiele dauern Tage und die Regeln scheint nur verstehen zu können, wer in den Sport hineingeboren wurde. Aber hinter Cricket steht auch ein besonderer Stil. Bis heute wird in England schlechtes Benehmen mit dem Ausruf verurteilt: „That’s not cricket!“ Cricket aber kostet Zeit. Die muss man erst einmal haben. Man musste sich in England früher Sport leisten können. Genauso muss man sich heute Sportsgeist leisten können, die Einstellung, dass der Sieg nicht alles ist.
Der Gegenentwurf zum englischen Sport ist die Tour de France. Hier kämpften sich die Landstraßenarbeiter die Berge rauf. Das Erklettern der Berge steht sinnbildlich für den sozialen Aufstieg, der einigen Fahrern gelang. Die Tour war ihre einzige Chance. Es galt sie zu nutzen. Bei den Mitteln waren viele nicht wählerisch.
So erscheint der britische Sportsgeist edel, aber eben nicht universell. Denn liegen nicht mildernde Umstände vor, wenn ein afrikanischer Athlet mit Doping bei einem Straßenlauf Siegprämien erkämpft, von denen er seine Familie für Jahre ernähren kann? Der Sport, auch der olympische, hat sich immer mehr vom englischen Ideal hin zur Zweckgebundenheit der Tour de France entwickelt: Professionalisierung der Athleten, Unterhaltung der Massen. Er bekam etwas Existenzielles und wird zum Überlebenskampf stilisiert.
Doch ohne Fair Play ist Sport nur ein freies Spiel der Kräfte. „Fairness ist eine Tochter des Sports oder der kulturelle Beitrag der sportlichen Tradition zu der Kultur der Auseinandersetzungen in der Gesellschaft“, schreibt der Philosoph Hans Lenk, selbst 1960 Olympiasieger im Ruderachter. „Sie ist zu einer Art heimlicher Leittugend geregelter Auseinandersetzung in der Gesellschaft geworden.“ Fairness ist mehr, als die Spielregeln zu befolgen und den Pfiff des Schiedsrichters anzuerkennen. Dieses Mindestmaß an sportlichem Verhalten nennt Lenk die formelle Fairness – und setzt obendrauf die informelle Fairness. Hier kommt der Geist des Sports ins Spiel. Und wer in diesem Geist handelt, der sieht im Gegner keinen Feind, sondern achtet ihn als Mitspieler und Partner.
Gegen die Gleichmacherei: Wettbewerb bleibt wichtig
Mit Gleichmacherei hat das nichts zu tun. Der Wettbewerb – im Sport wie in der liberalen Gesellschaft – lebt von der Konkurrenz, von der Leistung, von unterschiedlichen Begabungen. Insofern ist Fairness auch nicht mit Gerechtigkeit zu verwechseln, einem Begriff, bei dem gerade in Deutschland oft Gleichheit als Bedeutung mitschwingt. „Fairness“ zu übersetzen ist schwierig. Kein deutsches Wort erfasse alle Bedeutungsgehalte des Adjektivs „fair“, schreibt Werner Haubrich, der die Sprache des Sports analysiert hat.
„Gerechtigkeit fragt nach dem, was jedem zusteht, was einem jeden gerecht wird, was ein jeder einzubringen vermag“, definiert der Philosoph Norbert Copray in seinem Buch „Fairness. Der Schlüssel zu Kooperation und Vertrauen“, das vor zwei Jahren erschien. „Fairness fragt danach, ob es fair ist, wenn jemand bekommt, was ihm zusteht. Fragt, ob fair ist, was jemand auf welche Weise einbringt. Fragt, ob es fair ist, jemanden nur unter Gerechtigkeits- oder Gleichheitsprinzipien zu behandeln.“ Fairness habe mit Verantwortung zu tun. Präziser: mit individueller Verantwortung.
Hier fügt sich der Fairness-Begriff in die liberale englische Tradition, die auf die Kraft des Individuums sowie dessen Handlungsspielräume in der offenen Gesellschaft setzt. Pragmatismus und Common Sense – noch so ein schwer zu übersetzender englischer Begriff, in dem sowohl Gemeinsinn als auch gesunder Menschenverstand stecken – sind dieser Haltung zufolge eher zu trauen als großen systematischen Gesellschaftsentwürfen. Dass diese freiheitliche Tradition in Deutschland schon früh von einem Kult um die Gleichheit überlagert und teils verdrängt wurde – und zu welchem Schrecken das beitragen kann – hat Götz Aly unlängst in seinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933“ detailliert nachgezeichnet.
Vergleichsweise harmlos, aber doch bezeichnend, kann sich das im Berliner Alltag schon mal so darstellen: In Prenzlauer Berg ging unlängst ein Mann um, der Spätkaufinhaber, die trotz Verbots auch sonntags geöffnet hatten, anzeigte. Schließlich müsse es „gerecht“ zugehen, gab der Denunziant als Erklärung für sein Vorgehen an. Ein Ladeninhaber schlug zurück, indem er die Rufnummer seines Anschwärzers ins Schaufenster klebte. Eine Auseinandersetzung auf dem Feld der Gerechtigkeit, die kaum von Fairness, Common Sense oder Pragmatik getragen wurde.
Diver und Schwalbenkönig.
David Rennie, Kolumnist des britischen Magazins „Economist“, definiert die Vorstellungen seiner Landsleute von einer fairen Gesellschaft in Abgrenzung zum kontinentalen Europa, wo er ebenfalls gelebt hat: „In weiten Teilen Europas wird Wettbewerb als notwendiges Übel und Gegenteil von Solidarität angesehen.“ Briten seien stärkere Individualisten und tolerierten Wettbewerb mehr, „as long as the rules of the game are just“ („so lange die Spielregeln gerecht sind“). An die Stelle eines Gerechtigkeits- und Gleichheitsideals treten „just rules“, gerechte Regeln, die es im Wettbewerb jedem Akteur ermöglichen, sich individuell fair zu verhalten. Sie sollen Chancengleichheit schaffen, nicht Gleichheit herbeiführen.
Gerade im Leistungssport aber haben sich vielerlei Techniken verbreitet, die zwar nach den Regeln nicht verboten sind, aber den Geist der Regeln verletzen. Etwa den Spielfluss zu verzögern, sich beim Aufschlag länger Zeit zu lassen als nötig. Oder dem Gegner nach einem Punktgewinn die Faust zu zeigen und ihm dabei einschüchternd in die Augen zu schauen.
Natürlich sind auch britische Sportler nicht frei davon. Doch scheinen sich in England noch einige Überbleibsel des Sportsgeists bewahrt zu haben – sogar im hochkommerzialisierten Fußball. Der „Diver“, der Schwalbenkönig, der sich hinwirft, um Freistöße und Elfmeter zu schinden, wird von Fans und Reportern in der englischen Premier League deutlich stärker angeprangert als in der deutschen Bundesliga. Spieler in England – interessanterweise zumeist auch die aus dem Ausland – wälzen sich deutlich seltener nach harmlosen Remplern des Gegners minutenlang mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Rasen. Während in der Bundesliga inzwischen bei so gut wie jeder Entscheidung des Schiedsrichters so ziemlich alle umstehenden Spieler ihre Arme reklamierend in die Höhe strecken, sieht man diese kindischen Gesten in England seltener. Ebenso das gestenreiche Fordern von Gelben und Roten Karten oder sonstigen Sanktionen bei Regelverletzungen des Gegners, das an unseren Berliner Spätkauf-Denunzianten erinnert. „Taktisches Foul“ und „Notbremse“ oder das „Herausholen eines Elfmeters“ sind typisch deutscher Sprachgebrauch, Begriffe, die in deutschen Sportreportagen inflationär vorkommen.
Die Rolle der Fans.
Die Sehnsucht nach der Fairness ist also nicht ganz verloren gegangen. Institutioneller Ausdruck dieser Sehnsucht sind wohl auch die vielen Fairnesspreise, die bei großen Galas verliehen werden. Und um das gute Verhalten nicht ganz aus den Augen zu verlieren, werden mittlerweile selbst Plätze in Europapokalwettbewerben über eine Fair-Play-Wertung vergeben.
Was darüber hinaus nachhaltig zu mehr Fairness beitragen könnte, ist schwieriger umsetzen: dem Sport etwas von seinem Existenziellen, für den einzelnen Sportler Überlebenswichtigem zu nehmen. Durch die Hintertür zumindest ein wenig vom alten Amateurideal wieder einzuführen. Durchaus glaubwürdig ist zum Beispiel die Strategie einiger deutscher Sportverbände, eine duale Karriere zu fördern. Junge Athleten dabei zu unterstützen, dass sie sich neben dem Sport mit einer Ausbildung oder einem Studium ein zweites Standbein schaffen, damit es noch eine zweite Laufbahn geben kann, wenn die erste einmal zu Ende ist – was durch Verletzungen oft früher der Fall ist, als geplant. Das bringt ein Stück Unabhängigkeit.
Dieses Rollenmodell stellt sich in London jetzt dem internationalen Wettbewerb. Vielleicht sind die Athleten mit dem Blick fürs andere ja genauso erfolgreich wie die mit der totalen Konzentration auf den Sport. Und möglicherweise ist der Finanzplatz London weniger prägend auf die Spiele als die Weltbürgerstadt London. „Ich erwarte mir, dass der Spirit von London, also dieses entspannte, geistige Klima, die Großzügigkeit des Denkens und auch die angelsächsische Skepsis im Sport die Mentalität der Teilnehmer und die der Zuschauer beeinflusst“, hofft Gunter Gebauer.
Auch die Fans im Stadion und am Fernseher sind Individuen mit Handlungsspielraum. Sie können entscheiden, wie viel Fairness sie verlangen, ob ihnen formelle Fairness im Spitzensport ausreicht oder ob mehr dazu gehört. Nicht zuletzt auf sie kommt es an, wenn sich in den nächsten Wochen zeigt, ob der Sport auch in seinem Ursprungsland von allen guten Geistern verlassen ist.