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Prüfungssituation in der Schule.
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Essay: Was ist gute Bildung?

Toleranz, Empathie, Höflichkeit, gute Manieren: Solche Tugenden erleichtern das gemeinsame Leben. Sprach- und Moralerziehung sollten zentral sein. Einige Reminiszenzen an unser pädagogisches Erbe der Aufklärung.

Von Bildung wird heute in inflationärer Weise gesprochen, häufig auch in Form von kühnen Wortkreationen: Viele Parlamentsdebatten, Feuilletonbeiträge, politische Programmschriften oder kulturkritische Essays, die sich voller Verve mit dem aktuellen Schulsystem und dem Wissensniveau unserer Gesellschaft befassen, sind gespickt mit teils markig-optimistischen, teils Trübsal blasenden Begriffen wie Bildungsoffensive, Bildungsexpansion, Bildungsrepublik, oder Bildungsschock, Bildungsblockade und Bildungschaos.

Dadurch wird zum einen deutlich, dass der Zustand der Bildung ein zentrales Thema der öffentlichen Diskussionskultur ist, über das man sich kundig machen sollte, um kompetent mitreden zu können. Zum anderen zeigt die oftmals dramatische Wortwahl, mit der über Bildung gesprochen wird, aber auch an, dass es bei der Behandlung dieses Gegenstands offensichtlich immer ums Ganze geht, um das Wohl und Wehe unseres individuellen Alltags und unserer gesellschaftlichen Zukunft. So sind die Erwartungen und Ansprüche, die eine breite Öffentlichkeit an das stellt, was gute Bildung ausmacht, außerordentlich hochgespannt, mitunter auch hoffnungslos überzogen.

Um etwas mehr Gelassenheit und Nüchternheit in der Bildungsdebatte walten zu lassen, ohne dabei die Bedeutung der verhandelten Sache aus den Augen zu verlieren oder kleinzureden, lohnt es sich, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Denn sie bietet unverzichtbare Orientierung, wenn man sich größere Klarheit über das Wesen des modernen Bildungsbegriffs verschaffen möchte. Durch das Nachzeichnen seines historischen Bedeutungshorizonts werden zwangsläufig auch die ursprünglichen Bedeutungselemente dieses viel diskutierten Begriffs sichtbar. Dies kann in besonderer Weise zur Schärfung der damit verbundenen pädagogischen Konzepte beitragen.

Gerne verweisen diejenigen, die mit einem Sinn für die historische Dimension des Bildungsbegriffs begabt sind, auf den Beginn des 19. Jahrhunderts, als – nach Preußens militärischer Demütigung durch die Truppen Napoleons – Wilhelm von Humboldt die geistigen Kräfte des Volkes durch einen bewussten Rückgriff auf die humanistischen Ideale der Antike wieder zu stärken und neu auszurichten suchte. Als frisch berufener Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium sowie als Mitbegründer der Berliner Universität äußerte er sich zwischen 1809 und 1810 in so eingängiger Weise zu seinem neuen Aufgabenfeld, dass seine wichtigsten Merksätze bis heute zitiert werden, wenn ein Maßstab für gute Bildung gesucht wird.

Doch der Bezug auf Humboldt – so fruchtbar er in vielerlei Hinsicht sein mag – greift zu kurz, wenn man den Anfängen des modernen Diskurses über Bildung auf die Spur kommen will. Bereits 1784, als Humboldt noch ein Jüngling war, konstatierte ein anderer großer Berliner Denker, der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, in seinem Aufsatz „Über die Frage: was heißt aufklären?“, dass das Wort Bildung schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einen ganz neuen, vordem nicht gekannten Klang erhalten habe. Im Unterschied zum Mittelalter, zur Reformationszeit und auch noch zum Barock, als mit dem (der deutschen Sprache eigentümlichen) Begriff Bildung vornehmlich die Gestaltung des Geistes allein durch äußere Einwirkung gemeint war- – Martin Luther beispielsweise betonte, dass die Menschen ausschließlich durch die Gnade Gottes „formieret“ oder „gebildet werden“ –, wurde im Zeitalter der Aufklärung die Vorstellung vorherrschend, dass Bildung wesentlich und in erster Linie Selbstbildung sei.

Bildung und Erziehung: Begriffe mit unterschiedlicher Bedeutung

Das heißt: Dem nach Aufklärung strebenden Menschen wurde sowohl die Fähigkeit als auch die Verantwortung zugesprochen, für die rechte und gute Ausgestaltung, Formung oder Bildung seines Verstandes, seiner moralischen Verhaltensweisen und seines intellektuellen Erkenntnisvermögens Sorge zu tragen. Seine Anlagen und Talente, sein individuelles Temperament, waren ihm vorgegeben, er konnte sich diese ihn bezeichnenden Charakteristika nicht aussuchen. Aber im Rahmen des ihm Möglichen sollte und musste er lernen, sich – so roh er anfänglich auch immer war – beständig zu kultivieren, eben zu bilden.

Damit hatte der Begriff Bildung, der nun auch synonym mit dem Wort Erziehung gebraucht wurde, einen eminent pädagogischen Akzent erhalten. Er zielte darauf ab, dass der mündige und verantwortungsbewusste Mensch sich selbst – gerade auch im freien Zusammenwirken mit seinen Mitmenschen – zu einem wissbegierigen und nützlichen Glied der Gesellschaft erziehen, formen und ausbilden sollte. Wie das am ehesten geschehen konnte und welche Kenntnisse und Eigenschaften einen aufgeklärten Menschen in der Hauptsache zierten, beschrieb in Deutschland als einer der Ersten, und noch dazu in besonders pointierter Manier, der Leipziger Schriftsteller und Professor für Moral Christian Fürchtegott Gellert.

In seinen Vorlesungen über Moral, die er ab 1744 bis zu seinem Tod im Jahr 1769 Semester für Semester vortrug, kam Gellert regelmäßig auf „die Pflichten der Erziehung“ und damit auch auf „die Bildung“ zu sprechen. „Erziehen“ heiße, so Gellert, sich und seine Zöglinge, für die man als Lehrer, Vater, Mutter oder Dozent Verantwortung trage, mit Blick sowohl auf den „Verstand“, das „Herz“ und auch die „Naturgaben“ ganz zielgerichtet „so (zu) bilden“, dass man „die Welt, die Menschen“ immer besser „kennen“ und sein „Verhalten nach diesen Kenntnissen einrichten lerne“. Gute Bildung bestand demnach in einer möglichst umfassenden Welt- und Menschenkenntnis sowie im Beherrschen jener Umgangs- und Verhaltensformen, die es einem ermöglichten, in der Welt „sich und Andern zum Glücke zu leben“.

Die Erschließung der Welt vollzog sich nun, so Gellert weiter, wesentlich mittels eines versierten Sprachgebrauchs, durch intensive Lektüre von Büchern und Zeitungen, durch das Verfassen eigener Schriften und Briefe, in denen man über das bereits Erkannte oder noch nicht hinreichend Geklärte reflektierte, und nicht zuletzt auch in Form von Diskussionen mit interessanten Gesprächspartnern. Gutes und redliches Verhalten wiederum wurde in der Hauptsache durch Moralerziehung und durch den Umgang mit freundlichen, höflichen und aufmerksamen Menschen eingeübt. Insofern führte der Weg zur Kenntnis der Welt und zu menschenfreundlichen Umgangsformen, zum Kern guter Bildung also, wesentlich über Sprache und Moral.

Die ab 1770 im Druck vorliegenden Vorlesungen Gellerts hatten auf Generationen von Hörern und Lesern eine kaum zu überschätzende Wirkung. Goethe, der wohl berühmteste Student des Leipziger Professors, pries dessen Vorlesungen über Moral denn auch als „Fundament der deutschen sittlichen Kultur“. Zudem ließ er sich von Gellert gerne, sogar „mit roter Tinte“, seine schriftlichen Arbeiten verbessern, um durch diese Korrekturen und Verbesserungsvorschläge wertvolle Hinweise zur Vervollkommnung seines Ausdrucks und seines Sprachgebrauchs zu erhalten.

Dem von Gellert geprägten Bildungsbegriff, der Sprache und Moral die zentrale Bedeutung im Erziehungs- und Selbsterziehungsprozess zuwies, lag keine elitäre, sondern eine auf Chancengleichheit erpichte Vorstellung von Erziehung und Bildung zugrunde. Denn „bilden“ sollten sich auch diejenigen, die bislang kaum oder gar nicht in den Genuss guter Erziehung gekommen waren, wie zum Beispiel Mädchen und Frauen oder die Kinder der ärmsten Bauern. So unterhielt Gellert lehrreiche Briefwechsel mit „Frauenzimmern“, die er auch in Druck gab, entwarf für Mädchen umfassende Literaturlisten und regte seinen langjährigen Freund, den märkischen Freiherrn Friedrich Eberhard von Rochow, dazu an, auf seinen Gütern im brandenburgischen Reckahn eine Schule für Kinder mittelloser Landleute zu errichten.

Der zutiefst aufklärerische Impetus dieses Bildungsbegriffs bestand darin, grundsätzlich allen Menschen einen Zugang zum Wissen und zum Umgang auch mit Höhergestellten zu verschaffen. Jeder sollte in die Lage versetzt werden, gute Literatur – ob Romane, wissenschaftliche Abhandlungen oder feuilletonistische Zeitungsbeiträge – selbst zu lesen, in seiner Muttersprache und in der Verkehrssprache seines Landes. Jeder sollte lernen, sich mündlich wie schriftlich – ausgestattet mit einem nuancierten Wortschatz – akkurat, klar, logisch, aufrichtig und verständlich zu artikulieren, die Wirklichkeit realistisch zu beschreiben und das so gewonnene Verständnis der Welt dann auch im Austausch mit anderen gebildeten Menschen ständig zu überprüfen und zu erweitern.

Bildung findet vor allem im Elternhaus, in Schulen und an Unis statt

Es war dies somit ein Bildungsbegriff, der perspektivisch allen Menschen gestattete, sich zu mündigen und zu politischer Mitsprache befähigten Bürgern zu entwickeln – auch im Zeichen einer umfassenden religiösen Toleranz, für die Gellert eintrat, weil der moralische Anstand es gebot. In gewisser Weise bestand die Moral der Aufklärung sogar in der Hauptsache darin, durch einen freundlichen Umgang mit Menschen anderer Glaubensauffassungen, Weltanschauungen, Denkstilen und Meinungen, das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Dies spiegelte sich dann in einer von Toleranz und Respekt geprägten moralischen Grundeinstellung: Achtung vor dem Anderen, auch vor dem Fremden.

Dieser Bildungsbegriff, der die Sprach- und Moralerziehung in den Mittelpunkt stellte, strebte zunächst nicht die von Goethes Freund Humboldt später so eindringlich geforderte „höchste und proportionierlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen“ an. Ein allseitig und harmonisch gebildeter Mensch, der mathematisch, musisch, ja vielleicht auch sportlich glänzte, überdies auch vom lateinisch-griechischen Wissensbestand der Antike zehrte, war nicht das oberste Ideal der Aufklärung. Der Bildungsbegriff der Aufklärung war einerseits bescheidener, andererseits aber realistischer und rigoroser, weil er das sprachliche und moralische Bildungsniveau wirklich jedes Menschen anzuheben trachtete und sicher war, dies auch in zumindest zufriedenstellender Form erreichen zu können.

Auf der Grundlage eines so gelegten Fundamentes der Bildung konnte dann natürlich durchaus, bei entsprechender Begabung, auch eine Persönlichkeit humboldtschen Formats reifen. Doch was die Aufklärer als gute Bildung bezeichneten, war eben nicht dieses mögliche edle Ergebnis eines vollendeten Bildungsprozesses, sondern dessen Anfang, seine Vorbedingung. Anders gewendet: Das aufklärerische Verständnis von Bildung als Ausbildung einer souveränen Sprachkompetenz und eines sicheren und freundlichen Umgangs mit Menschen war die unverzichtbare Voraussetzung für einen lebenslangen Prozess des Lernens, für eine erfolgreiche Welterschließung und für ein glückliches Wirken in der Gesellschaft.

Was lässt sich von diesem Bildungsbegriff, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt wurde, mit in die Zukunft nehmen? Zum einen können wir uns von ihm dazu ermutigen lassen, da, wo intentionale Bildungsprozesse sich in erster Linie vollziehen – in Elternhaus, Vorschule, Schule oder Hochschule –, zum frühestmöglichen Zeitpunkt und dann dauerhaft den allergrößten Wert auf ästhetische Spracherziehung, die Förderung von Lesekompetenz, Textanalyse, das schriftliche und mündliche Argumentieren und das logische Schlussfolgern zu legen. Spracherziehung und Sprachsensibilisierung bieten allen heranwachsenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die beste Gewähr auf die Beschaffung von zuverlässigen Informationen über die Welt und auf eine aktive, auch politisch tätige, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

Zum anderen können und sollten wir uns von dem aufklärerischen Bildungsbegriff aber auch dazu anhalten lassen, wieder einen größeren Wert auf Moralerziehung und Charakterbildung zu legen, weil sie unverzichtbare Bestandteile eines gelungenen Bildungsprozesses sind. Toleranz, Empathie, Höflichkeit, gute Manieren, kurz: der Wille, andere Menschen möglichst in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen, sind Tugenden, die in jedem Fall das gemeinsame Leben erleichtern, aber auch das gemeinsame Lernen.

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