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Die Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe bewerten, sondern nach ihrem Charakter.
© dpa

50 Jahre "I have a dream": Was Europa von Martin Luther King lernen kann

Vor 50 Jahren hielt Martin Luther King auf den Stufen des Lincoln-Memorials in Washington D.C. seine „I-have-a-dream“-Rede. Seitdem ist viel passiert – in Amerika. Und in Europa? Ist der Alte Kontinent weniger fremdenfeindlich?

Er war 20 Jahre alt an diesem Tag, seinem Todestag. Es war der 21. Juni 1964. Gemeinsam mit zwei anderen Bürgerrechtlern war Andrew Goodman – ein Freund und Klassenkamerad des späteren Sängers Paul Simon – nach Meridian im US-Bundesstaat Mississippi gefahren. Dort wollten sie Schwarzen dabei helfen, sich als Wähler registrieren zu lassen.

Kurz zuvor war ganz in der Nähe die „Mount Zion Methodist Church“ in Flammen aufgegangen. Die Kirche war überwiegend von Schwarzen genutzt worden und sollte als Registrierungsstelle dienen. Die drei Bürgerrechtler sahen sich den Tatort an. Am späten Abend wurde ihr Wagen von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans gestoppt. Sie erschossen die drei, einen nach dem anderen, aus nächster Nähe und verscharrten anschließend deren Leichen.

Zehn Monate zuvor, daran erinnert jetzt der „Economist“, war Goodman aus New York nach Washington D.C. gereist. Dort stand am 28. August 1963 Martin Luther King auf den Stufen des Lincoln-Memorials und hielt vor 250 000 Menschen seine berühmte „I-have-a-dream“-Rede. King träumte von einem Amerika, in dem Menschen nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe bewertet werden.

Wäre Martin Luther King heute stolz auf sein Land?

Am kommenden Mittwoch, dem 50. Jahrestag des „Marsches auf Washington“, werden an derselben Stelle drei amerikanische Präsidenten Bilanz ziehen – Jimmy Carter, Bill Clinton und Barack Obama. Sie werden Versäumnisse beklagen, Skandale anprangern und Hoffnungen verbreiten. Die Veranstalter haben angekündigt, dass es auch um die Lage der Schwulen, Lesben und Transsexuellen. Dennoch: Ein Kreis schließt sich.

Martin Luther King bekam für sein Wirken den Friedensnobelpreis, fünf Jahre nach seiner Rede wurde er von einem Rassisten ermordet. Heute wird sein Name in Amerika in einem Atemzug mit Lincoln und Jefferson genannt. Der Martin-Luther-King-Tag ist ein Feiertag, im ganzen Land stehen Denkmäler und Statuen, die an den Prediger und seinen Traum erinnern. Wäre er heute stolz auf sein Land?

Ein Schwarzer ist Präsident geworden, auf allen gesellschaftlichen Ebenen – vom Regierungskabinett bis zum Verfassungsgericht, von der Wall Street bis zu den Universitäten, vom Showbusiness bis nach Hollywood, vom Militär bis zur Musik – sind Schwarze präsent. Kulturell prägen sie das Land heute stärker als etwa Latinos oder Asiaten. Die rechtliche Gleichstellung ist erreicht, Diskriminierung verboten. Wer sich in Amerika heute rassistisch äußert, dessen Karriere ist sofort beendet.

Doch auf sozialer Ebene herrschen weiterhin himmelschreiende Disparitäten. Die schwarze Familie zerbricht. Die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig, die der außerehelichen Kinder steigt. Im Jahr 2011 wurden 55 Prozent der schwarzen Kinder von Alleinerziehenden groß gezogen. Das Armutsrisiko dieser Kinder ist viermal höher als das von Kindern mit zwei zusammenlebenden Elternteilen. Relativ gesehen sind weitaus mehr Schwarze als Weiße arm, arbeitslos, krank und kriminell. Ihre Lebenserwartung ist niedriger, ebenso ihr Einkommen.

Europas Probleme mit Rassismus

Deutet all das auf ein höheres Maß an Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Amerika hin als zum Beispiel in Europa? Vor einem solchen Schluss sei gewarnt. Direkte Vergleiche sind zwar schwer, aber als Kollektiv geht es Amerikas Schwarzen sicher besser als etwa den zehn bis zwölf Millionen Roma in Europa. Offen religions- und ausländerfeindliche Parteien wie Ungarns Jobbik, Bulgariens Ataka, Frankreichs Front National oder Griechenlands Chrysi Avgi gibt es in den USA nicht. Minarettbau- oder Verschleierungsverbote wären undenkbar. Auch nach Parallelen zum xenophoben Terrorismus der NSU sucht man vergeblich. Anschläge werden wenn, dann von Einzeltätern verübt.

Amerika ist ein Einwanderungsland. Jeder dort hat seine Geschichte, Parallelwelten gelten nicht als bedrohlich, sondern als normal. Ob Chinatown oder Little Italy, Oktoberfest oder St.-Patricks-Day: Amerikaner sind stolz darauf, Amerikaner zu sein. Aber sie sind auch stolz auf ihre Herkunft. Mischehen, die vor 50 Jahren in vielen Bundesstaaten noch verboten waren, sind heute eine Selbstverständlichkeit. Aus ihrer Verfassung speist sich die Identität der Amerikaner, nicht aus Rasse, Hautfarbe, Religion oder Kultur. Joachim Gauck hat jetzt für eine ähnliche Entwicklung in Deutschland geworben: „Wir alle profitieren, wenn Frauen und Männer mit ganz unterschiedlichen Wurzeln ihre Erfahrungen auch in die Parlamente einbringen“, sagte er.

In Philadelphia, Mississippi, wo ganz in der Nähe am 21. Juni 1964 Andrew Goodman erschossen wurde, regiert heute ein schwarzer Bürgermeister.

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