Zu legitim für das Amt: Warum der Bundespräsident nicht vom Volk gewählt wird
Wer so leichtfertig die Direktwahl des deutschen Staatsoberhaupts fordert, hat die Konsequenzen nicht bedacht. Statt mehr Demokratie, würde man nur mehr Durcheinander schaffen.
Alle fünf Jahre, neuerdings öfter, debattiert die Republik die Frage: Was ist der Bundespräsident, und zu welchem Zweck leisten wir ihn uns? Dann wird stets die Forderung wiederbelebt, den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen. Die Kür des Vielparteienkandidaten Joachim Gauck hat dazu wieder Anlass gegeben. Die Schar der Anhänger einer Direktwahl war und ist nicht klein und prominent besetzt. Johannes Rau (vor Amtsantritt), Horst Köhler (nach Amtsantritt) waren dafür, Herbert Wehner war es auch, von der FDP gibt es einen Parteitagsbeschluss. Befürworter gibt es in allen politischen Lagern, unter Kulturschaffenden, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft.
Aber die Befürworter der Direktwahl des Präsidenten fahren auf dem falschen Gleis. Denn eine Direktwahl würde dem Amt allenfalls kurzfristig zu mehr Glanz verhelfen und es demokratischer wirken lassen, als die Wahl durch die durchaus honorige Bundesversammlung es vermag. Letztlich würde die Direktwahl möglicherweise sogar mehr Schaden als Nutzen stiften. Und zwar dem ganzen politischen System.
Eine Rückschau mag das klären. Das Präsidentenamt ragt aus vordemokratischen Zeiten in das demokratische Verfassungsgefüge hinein. Es ist ein Relikt, ein Monarchenersatz für postmonarchische Zeiten – die Kaiser, Könige und Fürsten sind schließlich seit 1919 abgeschafft. Dass es den Ersatzmonarchen dennoch gibt, mit den Aufgaben, welche Kaiser, Könige und Fürsten zuletzt hatten, ist das Ergebnis einer Mutlosigkeit der Verfassungsgeber von 1919 und 1948/49. Man hat damals einer in Deutschland stets lebendigen Parlaments- und Parteienskepsis nachgegeben – 1919 sehr stark, 1949 immer noch ein wenig.
Dieses Misstrauen gegenüber Parlamenten und Parteien fand seinen Ausdruck in jenem Amt, das bis heute gern überparteilich definiert wird als „neutrale Kraft“ über den Parteien, als besseres Gewissen der politischen Klasse. Aber auch, wenn die berühmten „mahnenden Worte“ aus Bellevue gelegentlich ganz gern gehört werden – ein Korrektiv zur Herrschaft des Parlaments kann, darf und soll der Präsident heute nicht mehr sein.
Das heutige System ist das Ergebnis eines historischen Lernprozesses.
1919 hatte die Weimarer Verfassungsversammlung leider nicht den Schneid, ganz auf das parlamentarische System zu setzen. Und 1949 wollte der Parlamentarische Rat, trotz der Grundsatzentscheidung für den Parlamentarismus, für die repräsentative Demokratie, auf den Präsidenten nicht völlig verzichten. Dass dabei der erste Bundespräsident Theodor Heuss kräftig mitgestaltet hat, darüber dürfen Schelme Böses denken.
In der Weimarer Republik war der Ersatzmonarch, weil er ein Korrektiv sein sollte, mit erheblicher Macht ausgestattet. Und deshalb gab es damals die Direktwahl. Nach dem katastrophalen Fehlschlag dieser Lösung hat man dem Präsidenten 1949 viel Macht genommen, und dazu gehörte, ihn nur noch indirekt über die Wahlleute der Bundesversammlung wählen zu lassen. Und so begleitet uns der eigentlich anachronistische Monarchenersatz bis heute und singt mit uns, wandert mit uns, reist für uns nach Afrika, predigt uns Versöhnung oder gibt uns hin und wieder einen Ruck.
Dass das alles in der Regel auf viel Zustimmung stößt, verbietet indes die Frage nicht, wozu man ein eigenständiges Staatsoberhaupt, also ein oberstes Exekutivorgan, in einer parlamentarischen Demokratie braucht? In welcher der Regierungschef, der Kanzler, die Kanzlerin, faktisch an der Spitze der Exekutive steht. Verwunderlich ist diese Doppelpoligkeit zumal, weil nach dem Ende des Kaiserreichs in allen deutschen Bundesstaaten die Monarchen ganz problem- und ersatzlos abgeschafft wurden, um das parlamentarische System unverwässert einzuführen.
Man hat damals (und tut es bis heute) die Funktionen von Staatsoberhaupt – die Länder haben ja Staatscharakter – und Regierungschef im Amt des Ministerpräsidenten gebündelt. Das hätte man 1919 auf der Reichsebene auch erwarten können. Warum aber auf Landesebene keine Bedenken bestanden gegen den reinen Parlamentarismus, auf der damaligen Bundesebene aber doch: Das gehört zu den Rätseln der deutschen Verfassungsgeschichte. Seit 1949 immerhin ist das Amt des Kanzlers deutlich höher gewichtet.
Auf den Präsidenten kommt es im politischen Alltag nicht an.
Der Engländer Walter Bagehot hat vor 150 Jahren in seiner klassischen Interpretation der englischen Verfassung zwei Arten von Institutionen unterschieden, die „efficient parts“, also jene Teile, die für das Funktionieren einer Verfassung wesentlich sind, und die „dignified parts“, also jene ehrwürdigen Teile, die das nicht sind, auch wenn sie ihre Funktion und ihren Wert haben. Als „ehrwürdigen Teil“ bezeichnete Bagehot die Monarchin. Übertragen auf unsere Verhältnisse kann man Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht als die effizienten Teile bezeichnen. Der Bundespräsident ist dagegen „dignified“ – und so haben alle Inhaber das Amt auch ausgeübt.
Auf den Präsidenten kommt es im politischen Alltag nicht an, trotz formal wichtiger Aufgaben wie Vorschlag des Bundeskanzlers, dessen Ernennung (samt Kabinettsmitgliedern), Auflösung des Bundestags, Unterzeichnung und Verkündung der Bundesgesetze. Denn die Macht, die darin liegt, darf er nach allgemeiner Auffassung nicht nutzen. Er hat den Kanzler vorzuschlagen, hinter dem die Mehrheit des Bundestags steht. Er hat die Minister zu ernennen oder zu entlassen, die der Kanzler benennt. Er kann bei Gesetzen verfassungsrechtliche Bedenken geltend machen, aber entschieden wird in Karlsruhe. Und auch bei der Auflösung des Bundestags ist seine Rolle begrenzt. Alle Präsidenten haben die vom Grundgesetz bereitgestellten Möglichkeiten zur Einflussnahme nur sehr selten und eher diskret genutzt. Es ist so und soll so sein: Das Staatsoberhaupt, der protokollarisch Erste im Staat, ist politisch unter den Verfassungsorganen das unbedeutendste.
Das alles wäre mit einer Direktwahl anders. Sie würde die Machtverteilung im Institutionengefüge ändern, weil der Präsident dann plötzlich „efficient“ wäre. Er wäre damit eigenständiger – und könnte eigenwilliger agieren. Denn was sonst sollte für die präsidiale Amtsauffassung aus der Direktwahl folgen? Direktdemokratisch legitimiert, aber nur „dignified“? Das kann klappen, wenn er oder sie aus einer Regierungspartei kommt. Aber was wäre, wenn eine rot-grüne Regierung und ein schwarzer Präsident im Amt wären? Oder ein SPD-Präsident einer schwarz-gelben Koalition gegenüberstünde? Würde das direkt legitimierte Staatsoberhaupt dann nicht stärker parteilich agieren?
Man kann darauf wetten. Es käme zur Konkurrenz mit Regierung und Bundestag. Es gäbe Machtproben. Als ob die Probleme zwischen Bundestag und Bundesrat bei unterschiedlichen Mehrheiten nicht schon genügten. Und selbst wenn sich ein direkt gewählter Präsident zurückhielte – seine Wähler würden irgendwann eine stärkere Präsenz erwarten. Wozu haben sie ihn schließlich gewählt?
Auf eine veränderte Machtlage mit einem direktdemokratisch aufgewerteten Präsidenten ist aber das Grundgesetz, ja das ganze politische System, nicht angelegt. Man ginge wieder in die Richtung der undurchdachten Mischung von Weimar, des unorganischen Nebeneinanders von präsidialem und parlamentarischem System.
Ein ehrwürdiger Präsident, ein effizienter Kanzler – das geht. Zwei „Effiziente“ – das geht nicht. Denn der Kern der Verfassung ist die parlamentarische Demokratie in einem Bundesstaat. Das präsidiale Element ist Beiwerk. Insofern ist die leichthin erhobene Forderung einer Direktwahl ein bisschen leichtsinnig. Sie brächte eben nicht mehr Demokratie. Sie brächte im besseren Fall nur einen weiteren Wahlkampf. Im schlechteren Fall aber mehr Durcheinander.