Terrorismus: Warten auf die Bombe
Indien, Pakistan, bald der Iran: Die Zahl der Atommächte nimmt zu. Doch die größere nukleare Bedrohung geht von Terroristen aus. Mögliche Hintermänner sind Al-Qaida-Anhänger in und aus Europa.
In Deutschland wächst die Terrorangst. Gemäß der von der R+V Versicherung seit 1991 jährlich durchgeführten Langezeitbeobachtung „Die Ängste der Deutschen“ ist die Furcht vor Anschlägen zwischen den Jahren 2006 und 2007 deutlich gestiegen. Ein inzwischen selbstverständlicher Teil des gesellschaftlichen Klimas ist die Erwartungshaltung, dass schon der nächste Anschlag der erste sein könnte, der mit „nuklearem Material“ verübt wird: „Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass es nur noch darum geht, wann solch ein Anschlag kommt, nicht mehr, ob“, so Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im September 2007.
Schon während des Ost-West- Konflikts wurde darüber spekuliert, dass strahlendes Material oder gar einsatzbereite Nuklearwaffen in die Hände von Terroristen gelangen könnten. Massiv wuchsen diese Befürchtungen durch den Kollaps der Sowjetunion. Das Gros der Experten erachtet daher nicht erst seit dem 11. September 2001 zumindest einen Anschlag mit einer sogenannten „schmutzigen Bombe“ als überfällig – einen Anschlag also, mit dem zwar keine Explosion durch eine atomare Kettenreaktion, aber die radioaktive Verseuchung des Anschlagsziels einhergehen würde.
Anlass genug, darüber zu spekulieren, was die Ursachen dafür sein könnten, dass der seit langem befürchtete nukleare Terroranschlag bisher ausblieb. Damit soll nichts verharmlost und schon gar nicht behauptet werden, dass dieser weiterhin nicht stattfinden wird. Vielmehr ist damit die Hoffnung auf ein präziseres Bild davon verbunden, wie, durch wen und warum ein Anschlag verübt werden könnte.
Wohl keiner Terroristengruppe dürfte ein Anschlag mit einer Nuklearwaffe aus einem staatlichen Arsenal gelingen. Staatliche Nuklearwaffenarsenale zählen zu den am besten gegen Diebstahl gesicherten Einrichtungen der Welt, die meisten Nuklearwaffenstaaten sorgen darüber hinaus mit technischen Vorrichtungen dafür, dass Unbefugte die Zündung der Sprengköpfe nicht einleiten können. Auch Pakistan, dessen Arsenal solche Sicherheitsmechanismen vermissen lässt, lagert Sprengköpfe und Zünder zumindest getrennt an geheimen, schwer bewachten Orten. Eher unwahrscheinlich ist auch die gezielte Weitergabe einer Waffe durch eine Atommacht, da der Hersteller einer Nuklearwaffe über die Explosionsrückstände identifizierbar wäre. Das daraus resultierende Risiko eines massiven Vergeltungsschlags würde wohl auch die größten „Schurkenstaaten“ dieser Welt von der Weitergabe einer Waffe an Terroristen abschrecken.
Eine verlässliche Einschätzung mit Blick auf die terroristischen Möglichkeiten zum Eigenbau einer Nuklearwaffe fällt schwerer, vor allem weil keine genauen Informationen darüber existieren, ob Terroristen bereits ausreichende Mengen an Spaltmaterial gestohlen oder auf dem Schwarzmarkt erworben haben. Zwar veröffentlicht die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) regelmäßig Zahlen, doch deren Vollständigkeit ist fraglich. Im Falle von Plutonium sollen laut IAEO nur Diebstähle im Grammbereich stattgefunden haben. Im Falle hoch angereicherten Urans beziffert sie die Menge abhandengekommenen Materials für den gesamten Zeitraum 1993 bis 2006 auf weniger als acht kg – was zum Bau einer Atombombe in jedem Fall zu wenig wäre.
Lässt man diese Zahlen einmal beiseite und geht davon aus, dass genügend Spaltmaterial in die Hände von Terroristen gelangt, dann wäre eine simple Spaltbombe – mit dem entsprechenden finanziellen und organisatorischen Aufwand – im Rahmen eines „terroristischen Atomprogramms“ realisierbar. Allerdings wöge diese schätzungsweise eine halbe Tonne, wäre entsprechend unhandlich und könnte wohl nur per Container oder Lkw transportiert werden. Das Entdeckungsrisiko, das bereits mit der Beschaffung von Spezialwerkzeugen und Zündversuchen im Rahmen der Bombenherstellung beginnt, wäre hoch – zumal Containersicherheit sowie das Aufspüren strahlender Fracht im Transitverkehr eifrig von der internationalen Gemeinschaft verfolgte Ziele sind.
Demgegenüber nimmt sich der Bau einer schmutzigen Bombe aus Sicht der Terroristen weitaus einfacher aus. Der Explosionseffekt wäre um mehrere Größenordnungen kleiner, dafür müssten für den Bombenbau weder Uran noch Plutonium noch die unabdingbaren Werkzeuge, Experten und Finanzmittel organisiert werden. Stattdessen wären nur vergleichsweise einfach erhältliche Komponenten wie konventionellen Sprengstoff und einen radioaktiven Emitter wie etwa Strontium oder Cäsium zu beschaffen, wie sie beispielsweise im Medizinbetrieb oder der Industrie zum Einsatz kommen. Im Schnitt „verschwinden“ bereits jetzt – auch durch Diebstahl, überwiegend aber aus anderen Gründen – in den USA 300 und in der EU 70 solcher Strahlenemitter pro Jahr, darunter hochradioaktive Substanzen. Die Explosion einer damit bestückten Bombe würde zwar keine nukleare Kettenreaktion in Gang setzen, aber strahlendes Material in der Umgebung verteilen, was Panik und ein Einbrechen der Wirtschaft nach sich ziehen sowie zur Evakuierung und Dekontamination ganzer Stadtviertel zwingen würde.
Die Detonation einer „echten Atombombe“ in einem Stadtzentrum wäre eine verheerende Katastrophe. Die Wahrscheinlichkeit für diese Form des Anschlags ist im Vergleich jedoch gering. Wahrscheinlicher, allerdings vorrangig mit psychologischen, wirtschaftlichen, auf lange Sicht möglicherweise krankheitserzeugenden Effekten verbunden, nimmt sich demgegenüber die Explosion einer schmutzigen Bombe oder das Ausbringen eines radiologischen Emitters aus. Wer würde einen solchen Anschlag planen können?
Bei der Frage nach den möglichen Hintermännern überwiegt in Fachkreisen die Einschätzung, dass Al Qaida der wahrscheinlichste Kandidat für diese Form von Nuklearterrorismus ist. Zu einer möglichen Erklärung, warum es bislang keinen Anschlag mit einer schmutzigen Bombe gegeben hat, trägt ein Blick auf die veränderte Organisationsstruktur von Al Qaida bei. Erstens ist der Organisation nach 9/11 und den Folgen ein Großteil ihrer operativen Plattform in Afghanistan abhanden gekommen. Zweitens befindet sich zumindest die Führungsriege bis zum heutigen Tag auf der Flucht vor ihren Verfolgern. Diese Schwächung ihrer Strukturen hat auf Seiten Al Qaidas zu einer Reorganisation geführt. Das zuvor stärker zentralisierte Gefüge wurde „aufgeweicht“, so dass aus einer ehemals von Afghanistan aus angeleiteten Organisation ein globales „Franchise-System“ geworden ist, das heute aus drei „Schichten“ besteht.
Zum Ersten der Rest der „alten“ Al Qaida, der vermutlich im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan zu verorten ist. Diese Schicht tritt im Wesentlichen durch Videobotschaften führender Köpfe – Osama Bin Laden und Ayman al Zawahiri – in Erscheinung. Ihre Aufgabe ist es im Wesentlichen, den „Mythos Al Qaida“ am Leben zu erhalten sowie die mit ihr verbundenen Gruppen ideologisch zusammenzuschweißen.
Die zweite Schicht umfasst die diversen nationalen Organisationen in der arabischen Welt, die sich mehr oder weniger explizit zu Al Qaida und ihren ideologischen Zielen bekennen. Diese Gruppen, wie etwa „Die Löwen Allahs in Palästina“, „Al Qaida im Maghreb“ oder „Al Qaida im Irak“, verfolgen nationale und regionale Agenden wie etwa den Sturz von Regierungen; sie verbünden sich dabei weniger organisatorisch denn rhetorisch mit der alten Al Qaida. Für sie ist die Verbindung zu Al Qaida, selbst wenn sie nur deklaratorischer Natur ist, primär für die Erhöhung der eigenen nationalen oder regionalen Bedeutung von Nutzen.
Die dritte Schicht besteht aus terroristischen Zellen in Europa, die zumeist aus jungen Muslimen und Konvertiten zusammengesetzt sind, die in europäischen Ländern geboren und aufgewachsen sind und sich islamistischen Zielen verschreiben. Diese Gruppen verfolgen keine spezifisch nationalen politischen Ziele; ihre Faszination für Al Qaida scheint eher in der transnationalen Ideologie zu bestehen, die durch die Transformation der Organisation in den vergangenen Jahren einen höheren Stellenwert erlangt hat – eine durch die „alte Führungsriege“ durchaus gewünschte Entwicklung, wie auch bin Ladens letzte Videobotschaften inzwischen vor Augen führen.
Die mit den Franchises verbundene partielle Regionalisierung und Nationalisierung Al Qaidas könnte in Summe auch einen Motivverlust nach sich ziehen, der zur Erklärung des bisherigen Ausbleibens von Nuklearterrorismus beitragen würde. Der Einsatz einer schmutzigen Bombe in einem arabischen Land hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge, dass die Sympathien all jener verspielt würden, deren Unterstützung eigentlich erreicht werden soll. Den Hintergrund dafür bildet das nukleare Tabu im Nahen und Mittleren Osten. Diese Tabuisierung fußt vor allem auf dem fast dreißigjährigen Diskurs zur Notwendigkeit einer atomwaffenfreien Zone. Entscheidend ist dabei die nukleare Suprematie Israels, die zur Folge hat, dass der Erwerb und Einsatz nuklearer (anders als chemischer oder biologischer) Waffen auf breiter Front verpönt ist.
Des Weiteren spricht aus einer rein strategischen Perspektive – beispielsweise im Kampf der Al-Qaida-Anhänger im Irak gegen Besatzungstruppen oder nationale Regierungen – vieles für die Fortsetzung einer Taktik der kleinen, zermürbenden Nadelstiche mit konventionellen Mitteln, da dieses Vorgehen sowohl weniger aufwendig als auch mit geringeren Risiken behaftet ist. In der aktuellen asymmetrischen Konfrontation scheint aus Sicht der Terroristen eine Vorgehensweise zielführender, die den Blutzoll auf Seiten des Gegners nur stetig erhöht und diesen damit auf Dauer zermürbt – und so letztendlich zum Aufgeben zwingt. Vonseiten der zweiten Schicht des globalen Al-Qaida-Franchise-Systems ist vor diesem Hintergrund ein nuklearer Terroranschlag (in Europa), wenngleich ihr im Gegensatz zu den Resten der alten Al Qaida die Möglichkeit durchaus gegeben sein dürfte, eher nicht zu erwarten.
Bleiben die europäischen Anhänger Al Qaidas aus der hier sogenannten dritten Schicht. Ihrem strategischen Kalkül – soweit mit Blick auf ein von extremen Hassgefühlen angeleitetes Handeln überhaupt von „Kalkül“ die Rede sein kann – würde es mit Sicherheit entsprechen, eine schmutzige Bombe in einer der europäischen Hauptstädte zur Detonation zu bringen. Unglücklicherweise gibt es in diesem Fall keinen triftigen Grund zu der Annahme, dass ihnen dies nicht auch gelingen könnte.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist von Seiten der „homegrown terrorists“ zwar nicht mit einem Anschlag durch eine nukleare Massenvernichtungswaffe zu rechnen, da dies die technischen und logistischen Möglichkeiten dieser Extremistengruppen übersteigt. Die mangelnde Sicherheit radiologischer Emissionsquellen, wie sie bei der Tumorbehandlung in Krankenhäusern, bei der Bestrahlung von Lebensmitteln oder auch in der Materialkontrolle eingesetzt werden, gibt allerdings mehr als genug Anlass zu der Sorge, dass der Anschlag sehr wohl die Gestalt einer schmutzigen Bombe annehmen könnte.
Trotz dieser düsteren Bestandsaufnahme bleiben Lichtblicke. So scheinen die bisher in Europa über sowohl verwirklichte als auch vereitelte Anschläge gesammelten Erkenntnisse darauf hinzuweisen, dass „homegrown terrorists“ bislang die finanziellen, technischen und logistischen Mittel fehlen, um einen Anschlag mit einer schmutzigen Bombe in naher Zukunft Realität werden zu lassen. Auch mehrt der Erfolg der Behörden in Deutschland, die einen jüngst von drei Dschihadisten aus dem Sauerland geplanten Anschlag mit Wasserstoffperoxid auf amerikanische Einrichtungen vereitelten, die Zuversicht, dass mit den bestehenden Maßnahmen zur Ermittlung und Strafverfolgung ein Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen gewährleistet werden kann. Das gibt zwar zu hoffen. Doch es entbindet die Behörden ebenso wenig davor, schadensbegrenzende Vorkehrungen im Ernstfall zu treffen wie die geheimdienstliche Aufklärungsarbeit weiterzuführen.
Carlo Masala, Frank Sauer
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