Holocaust-Gedenken: Wannsee-Konferenz: Anschlag auf die Menschheit
70 Jahre nach der Wannsee-Konferenz erwachen überwunden geglaubte Geister. In Deutschland hätte man einen rechtsterroristischen Untergrund kaum für möglich gehalten; in Nachbarländern haben Rechtsradikale Zulauf.
Als der SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, damals Chef des zur innersten Machtbasis Hitler-Deutschlands gehörenden Reichssicherheitshauptamtes, heute vor 70 Jahren in einer Villa am Berliner Wannsee zu einer Geheimbesprechung über die „Endlösung der Judenfrage“ lud, war das große Morden schon im Gange. Im Baltikum, auf dem Balkan, in Polen und der Ukraine wurden jüdische Menschen, ob Kinder, Frauen, Männer oder Greise, von den deutschen „Einsatzgruppen“, von Teilen der Wehrmacht und Kollaborateuren in den besetzten Ländern schon tausendfach erschlagen, erschossen, verbrannt. Doch die systematischen Deportationen in Viehwaggons quer durch den Kontinent und die Errichtung der Vernichtungslager und Gaskammern für die Juden Europas, dieser wahre wahnsinnige Holocaust nahm seinen bürokratisch exakt protokollierten Anfang mit der sogenannten „Wannsee-Konferenz“.
Vor 70 Jahren. Bald wird es keine Zeugen, keine überlebenden Opfer oder Täter mehr geben. Das gibt dem heutigen Gedenktag seine besondere Bedeutung. Deutschland, Europa und auch der infolge des Holocausts gegründete Staat Israel haben sich verändert, mit der Zeitgeschichte und den neuen Generationen erfährt selbst der unvergleichliche Genozid in der Rückschau seine unvermeidliche Historisierung. Er ist zur fernen Geschichte geworden – doch nie zu vergessen. Das ist keine Floskel einer irgendwie rituell gewordenen Gedächtniskultur.
Es geht, neben den Opfern und ihren Kindern, zuerst Deutschland an, wo die Täter zwar weitgehend ausgestorben sind und die Kinder sich frei fühlen dürfen von jeder Schuld. Sippenhaft – das war Nazi-Unrecht. Aber aus der Erinnerung wächst die Verantwortung, und die hat mit einem Begriff zu tun von dem, was wir Menschen überhaupt sind.
Im Windschatten einer Identitäten und traditionelle Gewissheiten überstürmenden Globalisierung erwachen an vielen Orten neue alte Phobien und längst überwunden geglaubte Geister. Sogar im vermeintlich hoch zivilisierten Europa hat es wieder ethnische und religiöse Konflikte bis hin zu völkermörderischer Gewalt gegeben. Im Osten des Kontinents nehmen Fremdenfurcht und Fremdenhass, Antisemitismus und Rassismus zu. In Deutschland hätte man einen terroristischen „Nationalsozialistischen Untergrund“ kaum noch für möglich gehalten; auch in Frankreich, Holland oder Italien haben Rechtsradikale wachsenden Zulauf.
Daraus erwachsen nicht nur abstrakte sozialpolitische Fragen zum Delegieren auf Irgendwann. Die Erinnerung, die sich symbolisch an die Wannsee-Konferenz knüpft, beginnt im Grunde mit dem, was Eltern und Schulen die Kinder lehren. Dabei geht es nicht einfach um ein „dunkles Kapitel“ im Geschichtsunterricht. Sondern um die Erhellung des Wesentlichen. Denn jener NS-Rassenwahn, der aus Millionen Menschen Unter- und Nichtmenschen machen wollte, zeugte nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er war ein Anschlag auf die Menschheit. Auf das Menschsein.
An diesem Punkt wurde Hannah Arendts berühmtes Diktum zum Jerusalemer Eichmann-Prozess oft missverstanden. Es gibt nicht die „Banalität des Bösen“. Banal waren die Bürokraten in der Wannseevilla. Als Spediteure des Todes waren sie in ihrem mitleidlosen Technokratenehrgeiz banal und böse. Aber das Böse selbst ist nicht banal. Es existiert und ist die größte Herausforderung der Menschheit. Das bleibt die Lehre des Holocausts. Für immer.