Bleibt bei uns!: Wahlkampf nervt, doch wann gibt es sonst Chancen zum Dialog?
Bloß gut, dass dieser Wahlkampf vorbei ist. Überfreundliche Politiker auf Straßen und Plakaten braucht doch niemand. Oder? Wenn der letzte Kandidat abgehängt ist und die Politik wieder im Saal stattfindet, werden wir sie vermissen.
Jeden Morgen lächeln sie mich an. Wenn ich mit dem ersten Kaffee in der Hand aus meinem Schöneberger Fenster schaue, blicken sie freundlich zurück. Wenn ich mich aufs Fahrrad schwinge, grüßen sie mich auf jedem Grünstreifen, an jeder Straßenecke. Sie warten auf mich, wenn ich abends nach Hause komme. Sie trotzten den Witterungen dieses verregneten Sommers, waren vertraute Konstante und Anker im Sturm der Ereignisse. Wann sieht man schon mal so viele freundliche Gesichter in Berlin wie auf den Wahlplakaten? Sie schweben mit ihrer positiven Ausstrahlung über dem Alltagsmuff der Stadt, über den motzenden Menschen auf den Straßen: „Was sollen eigentlich diese blöden Plakate? Ich wähl den doch nicht, weil ich seine Mütze schick finde!“
Ich mag die Mütze von Lars Oberg (SPD), auch den Milchbubibart von Christian Zander und die hochtoupierten roten Haare von Monika Thamm (beide CDU) habe ich irgendwie lieb gewonnen, genauso wie den Spruch des Grünen Jürgen Roth: „Außen Roth – innen grün“. Die Penetranz, mit der diese Menschen mir entgegenlächeln, die Vehemenz, mit der sie von mir gewählt werden wollen, beeindruckt mich. Wie zu einem stadtinternen Casting treten die Kandidaten an. Wer kriegt ein Recall-Ticket für die Koalitionsverhandlungen? Wir Bürger werden am Wahlsonntag zu Juroren über Gesichter, von denen wir viele noch nie gesehen hatten. Und genau da liegt das Problem.
Im Wahlkampf ist die Politik so nah am Bürger wie sonst nie. Nicht nur, weil die Kandidaten so freundlich von den Laternenpfählen lächeln. Sondern vor allem, weil sie in den Wochen bis zur Abgeordnetenhauswahl zum Dialog mit den Bürgern gezwungen werden. Das gilt weniger für die Spitzenkandidaten als vor allem für die Direktkandidaten aus den Wahlkreisen.
Eine Freundin hat rote Äpfel an Erstklässler verteilt, Luftballons und Radiergummis. Sie hatte Angst vor Beschimpfungen, doch die Eltern freuten sich über die Farbtupfer in der Federtasche und das Interesse an ihren Kindern. Die Freundin stand zuletzt häufig auf der Monumentenbrücke und verteilte Flugzettel und Wahlprogramme. Das Interesse war mäßig. „Ich wähle CDU“, riefen ihr die Leute abschätzig zu. Oder sagten cool: „Ich bin Pirat.“ Genervt winkten viele Passanten ab, griffen reflexartig nach den Luftballons, Dialog wollten die wenigsten. Trotzdem bleibt immer irgendwas hängen.
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Wir schimpfen über die Oberflächlichkeit der Plakate, die fehlenden politischen Aussagen. Wir freuen uns über das Handpuppen- Krokodil, das Wowereit zärtlich in die Nase beißt. Wir ärgern uns über den Slogan „Hertha und Union“ (SPD). Wir schmunzeln über die Piraten-Forderung „Religion privatisieren“ und über die Zukunftsvision des FDP-Spitzenkandidaten Christoph Meyer: „Wenn er damit fertig ist, hat er gar keine Haare mehr.“ Wir wundern uns über die BIG-Forderung „Gegen Schulfach Schwul“. Wir bedauern außerordentlich, dass die Plakate der NPD und Pro Deutschland so weit oben hängen, dass nicht mal ein Känguru sie abhängen könnte. Wir amüsieren uns darüber, dass Autofahrer die Tempo-30-Polemik der CDU als Straßenschilder missverstehen. Und während wir das tun, beschäftigen wir uns mit Politik. Wir diskutieren lautstark mit Freunden, die wir eigentlich in die Schublade „unpolitisch“ einsortiert hatten – und wenn es wieder nur um die Plakate geht. Doch alles ist politisch in diesen Tagen.
Natürlich nervt der Wahlkampf manchmal. Okay, oft. Doch solche Chancen zum direkten Dialog sind selten. In der vergangenen Woche verteilten die Grünen unten am Kleistpark Flyer. Erst am Donnerstag war der SPD-Kandidat wieder in meiner Straße unterwegs. Und gab mir die Möglichkeit zu fragen: Was tust du für mich? Was sind deine Ideen und Visionen für die Stadt, für unseren Kiez, für meine Straße? (Die anderen Parteien scheinen Schöneberg allerdings irgendwann aufgegeben zu haben.)
Viele der Kandidaten, die in den vergangenen Wochen unter ihren bunten Sonnenschirmen standen, haben etwas zu sagen, sind selbst verärgert oder enttäuscht – und glauben daran, etwas ändern zu können. Ihre vielen Helfer engagieren sich oft ehrenamtlich, weil sie an die Sache glauben oder einfach nur an die Demokratie. Natürlich wird auch geschönt, wird das Blaue vom Himmel versprochen. Aber trotzdem: Hier an den Straßenecken wird die ursprünglichste Form der Politik praktiziert. Zwischen dir und mir. Von Bürger zu Bürger.
Damit ist es bald wieder vorbei. Wenn sich die Castingteilnehmer am Sonntag in Gewinner und Verlierer teilen, hängen die Kandidaten auch ihr Lächeln wieder ab. Die Laternenpfähle bleiben grau und kahl zurück, ohne den Schutz der Pappe dem nahenden Winter ausgesetzt, der die Stadt für Monate im Schneematsch versinken lässt. Die Menschen verkriechen sich in ihren Wohnungen und die Kandidaten für die nächsten fünf Jahre im warmen Rathaus oder auf der Oppositionscouch. Die Stände, die Schirme, die Luftballons und die freundlichen Gesichter werden wieder verschwinden. Wer unpolitisch sein möchte, darf es wieder werden – mindestens bis zur Bundestagswahl 2013.
Aber so sollte es nicht sein! Klar, es kann nicht jeden Tag ein Kandidat zu mir nach Hause kommen, um die Probleme des Bezirks zu diskutieren. Auf Dauer hält das niemand aus – auch umgekehrt nicht. In den Wochen vor der Wahl haben die Parteien mit der Übersättigung der Menschen zu kämpfen. Wer es eilig hat, möchte weder von der CDU noch von Piraten angequatscht werden. Und wenn hinter jeder Ecke ein potenzieller Volksvertreter lauert, wird es auch dem engagiertesten Bürger irgendwann zu bunt.
Das Problem ist nur: Die politischen Sinuskurven schwanken zwischen totaler Abwesenheit im Alltag und unerträglicher Überdosis, wenn sich der Kalender dem Wahltag nähert. Die Parteien dürfen sich nicht nur darauf verlassen, dass die Bürger zu ihnen kommen – und dann über Politikverdrossenheit schimpfen, wenn sie es nicht tun. Kontinuierlich nah am Bürger zu sein, das wäre das Rezept. Auch ein Wahlslogan: Taucht nicht wieder ab! Bleibt bei uns in den nächsten fünf Jahren! Nicht ganz so geballt, doch immer mal wieder. Vielleicht sind dann beim nächsten Casting nicht mehr so viele Gesichter unbekannt. Lasst die freundlichen Menschen in meiner Straße doch einfach hängen. Zumindest, bis die Weihnachtsdekoration angebracht wird.