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Brüchige Fassade: Die Krawalle in Tottenham haben gezeigt, wie instabil das soziale Gefüge in sozialen Brennpunkten wie dem Londoner Stadtteil Tottenham ist.
© dpa

25 Jahre in Tottenham: Von Randale zu Randale

Niedergang und Krawall in London: Mark Perryman hat die letzten 25 Jahre in Tottenham gelebt. Warum er jetzt wegzieht, begründet er hier.

Ich bin kein geborener Londoner und ganz bestimmt kein authentischer Cockney. Doch vor einem Vierteljahrhundert zog ich in die Hauptstadt, um dort zu arbeiten, und fand mich in Tottenham wieder. Das war 1986, Margaret Thatchers Torys regierten unangefochten, nachdem sie im Jahr zuvor den Streik der Bergleute niedergeschlagen hatten. Am Wochenende, an dem ich einzog, bombardierten amerikanische Flugzeuge Libyen. Es hat sich nicht viel verändert. Damals ging ich mit einem Gutteil des radikalen London zum Grosvenor Square um zu protestieren. Wir saßen auf der Fahrbahn, blockierten Oxford Street und wurden schließlich von der Polizei von der Straße gedrängt. Ich klopfte mir den Staub ab und freute mich auf das Leben in London.

1986 war Tottenham aus zwei Gründen bekannt: Erstens den Krawallen ein Jahr früher, bei dem ein Bobby mit einer Machete getötet worden war. Diese berüchtigte Randale-Episode hatte den Ruf des Kiezes beschädigt, in dem ich jetzt lebte. Zweitens unser Fußballklub mit dem wunderbaren Namen Tottenham Hotspur FC. Es war der Verein des schon bald berühmtesten englischen Fußballers Paul Gascoigne. Die Gazzamania der späten Achtziger war eine Frühform des Glamourkults um David Beckham. Fünf Jahre später gewannen die Spurs den FA Cup dank Gazzas glorreichem Halbfinaltor gegen unsere Rivalen Arsenal aus der roten Hälfte Nord-Londons. Ich feierte mit vor dem Rathaus und kaufte an jenem Tag meine Jahreskarte. Seitdem habe ich immer wieder auf dem selben Platz im Stadion gesessen: Untere Westtribüne, Block 12.

Wie der Rest Londons ist Tottenham unglaublich multikulturell. Die Stadt und ihre Menschen sind kosmopolitisch. Die antimuslimische Rechte und der faschistische Rand, die in anderen Teilen Europas erstarken, ziehen hier nicht. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Auch hier ist nicht alles gut. Es gibt eine soziale Spaltung, die auf althergebrachten Vorstellungen von Armut und Klasse fußt. Fahren Sie abseits der Touristenpfade im West End mal nordwärts mit dem Bus, so wie ich es auf dem Weg nach Hause mache. Mein Bus ist voll von Menschen, die arm sind und größtenteils schwarz. Sie sind abgekoppelt vom politischen Prozess. Sie haben keinen oder wenig Anteil am Wohlstand und den Karrierechancen, die London einigen bietet, aber ganz sicher nicht allen.

Die Olympischen Spiele werden eine exklusive Party für die weiße Oberschicht. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Ich fürchte, dass die Olympischen Spiele in London im kommenden Jahr die Schärfe dieser Spaltung aufzeigen werden. Ein Ereignis, das größtenteils vom weißen „Mittelengland“ besucht wird und bei dem das schwarze innerstädtische London mit Ausnahme einiger Leichtathleten, Getränkeverkäufern und muskulösen Ordnern kaum repräsentiert sein wird. Dieser Ausschluss wird offensichtlicher sein als jemals zuvor. Während einige die Party ihres Lebens im olympischen Park feiern, wird ein großer Teil der Bevölkerung in den Kiezen drumherum einfach nur überleben, in dem Bewusstsein und dem Ärger darüber, was ihnen entgeht, obwohl es in Sichtweite stattfindet. Dieser Kontrast hat alles Potenzial, um den Krawall dieser Tage wieder anzuheizen - mit einem starken Ungerechtigkeitsgefühl und dem sichtbaren Beweis dafür ausgeschlossen zu sein.

Sie wollen gesehen werden, denn es hört ihnen keiner zu

Natürlich machen die meisten Menschen in Tottenham, schwarz oder weiß, keinen Krawall. Aber es gibt einen Anteil meist schwarzer Jugendlicher, denen der Kragen platzt, die kaum Verantwortungen übernehmen, nichts zu verlieren haben und es satt sind, ihr Leben als Außenseiter zu verbringen. Dies ist kein politisierter Widerstand gegen Sparpolitik, wie wir ihn in Griechenland, Spanien und anderswo sehen. Stattdessen ist dies ein Gewaltausbruch aus der Sehnsucht heraus, zur Kenntnis genommen zu werden, etwas Furcht einzuflößen, gesehen, wenn schon noch nicht gehört zu werden. Nichts davon ist eine Entschuldigung, doch Politiker, die den Krawall als reine Kriminalität verdammen, liegen daneben – geradezu vorsätzlich. Im britischen Parlament wird Tottenham durch den schwarzen Labour-Politiker David Lammy repräsentiert. Er ist Absolvent einer amerikanischen Eliteuniversität, er hat das Beste aus sich gemacht, herzlichen Glückwunsch. Aber er ist eine völlig andere Persönlichkeit als der Labour-Abgeordnete aus der Zeit, als ich hier hinzog. Bernie Grant war ein Hitzkopf, gestählt durch die Kämpfe gegen Rassismus und Diskriminierung, die er angeführt hatte. Natürlich hat er sich wie viele Abgeordnete ein bisschen von seinen Wurzeln entfernt, verführt durch den Lebensstil in Westminster. Doch 1986 sprach er eine Sprache, die nicht so abgehoben war, so dass die Randalierer noch sehen konnten, dass hier jemand aus ihrer Lebenswelt sprach. Das gibt es bei Labour nicht mehr. Die Partei hat keine oder kaum noch Wurzeln im schwarzen innerstädtischen London und sicherlich nichts, das dem Ärger der Schwarzen so etwas wie Hoffnung oder Perspektive entgegensetzen könnte.

25 Jahre nachdem ich nach Tottenham gezogen bin, gehen wir nun wieder weg. Nach Lewes, auf dem Land, in Sussex. Ich bin ein Linker, mit einwandfrei liberalem Einschlag. Ich fliehe nicht vor der ethnischen Mischung. Ich fliehe vor dem Niedergang, einer städtischen Infrastruktur am Rande des Kollaps sowie dem Ärger und Frust, den das hervorruft. Der öffentliche Nahverkehr ist das wichtigste Zeichen für diesen Niedergang in London, aber neben den Staus auf der Tottenham High Road läuft vieles andere schief. Wir setzen uns ab und hoffen, dass unsere Lebensqualität woanders besser sein wird. Aber auch wegen des um sich greifenden Rückzugs ins Private, mit dem die Londoner Mittelklasse sich gegen das schützt, was sich vor unserer Haustür abspielt. Noch einmal 25 Jahre hier zu leben wäre zu viel verlangt. Es wird Zeit für etwas Neues. Aber wie viele hier haben diese Wahl?

Leb wohl, Tottenham. Wegen Randale und Fußball war dieser Ort damals bekannt, und ist es jetzt. Dabei war noch nicht einmal der Fußball wirklich gut.

Mark Perryman ist unter anderem Autor des Buchs „Breaking up Britain: Four Nations after a Union“ und Mitgründer des Labels „Philosophy football“. Der Text wurde von Markus Hesselmann aus dem Englischen übersetzt.

Lesen Sie diesen Artikel hier im Original.

Mark Perryman

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