65 Jahre Kriegsende: Vergangenheit, die vergeht
In Berlin sind Zeugnisse der NS-Vergangenheit allgegenwärtig. Die ganze Stadt gleicht einem Stolperstein. Dennoch vergeht diese Vergangenheit langsam. Die aufwühlende Virulenz des Themas lässt spürbar nach, die Verlage bringen Jahr für Jahr weniger Holocaust-Literatur, selbst Hollywoodfilme über den Widerstand gegen Hitler rühren nicht wirklich an, der Aufarbeitungsmarkt ist weitgehend gesättigt.
In Deutschland weiß die Erinnerung oft gar nicht, wo sie anfangen soll. Muss sie sich chronologisch sortieren oder nach Relevanz? Jedenfalls feiern wir in diesen Tagen: 65 Jahre Kriegsende, fünf Jahre Holocaust-Mahnmal, die Eröffnung der neugestalteten Topographie des Terrors, 25 Jahre Bitburg-Kontroverse und 25 Jahre Weizsäckers 8.-Mai-Rede. Im kommenden Jahr sind es dann 25 Jahre Historikerstreit (Ernst Nolte: „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will“) und 15 Jahre Goldhagen-Debatte („willige Vollstrecker“), wiederum zwei Jahre später rufen wir uns den Bubis-Walser- Disput (Auschwitz als „Moralkeule“ versus „geistige Brandstiftung“) ins Gedächtnis zurück. Das Fazit: Wenn es um die NS-Zeit ging, war eigentlich immer viel los im Nachkriegsdeutschland.
Berlin ist die Welthauptstadt der Erinnerung – und zwar nicht nur an die eine Diktatur, sondern an beide totalitäre Ideologien des 20. Jahrhunderts, Faschismus und Kommunismus. Unzählige Orte zeugen davon. Es gibt das Haus am Checkpoint Charlie und demnächst eine Gedenkwand, die an die Mauertoten erinnert. Es gibt das Jüdische Museum, die Stolpersteine, das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen, das Kapitulationsmuseum, das Haus der Wannseekonferenz und die Gedenkstätte Gleis 17 am Bahnhof Grunewald. Man könnte fast sagen, Berlin ist ein einziger Stolperstein.
Doch trotz ihrer Omnipräsenz vergeht zumindest die NS-Vergangenheit langsam. Die aufwühlende Virulenz des Themas lässt spürbar nach, die Verlage bringen Jahr für Jahr weniger Holocaust-Literatur, selbst Hollywoodfilme über den Widerstand gegen Hitler rühren nicht wirklich an, der Aufarbeitungsmarkt ist weitgehend gesättigt. Die meisten Touristen in der Stadt begegnen den Zeugnissen des Grauens mit zwar ungebrochenem, aber entdramatisiertem Interesse. Die Neugier ist stärker als die Erschütterung. Lediglich wenn es um das iranische Atomprogramm und die Sicherheit Israels geht, lebt hier und da die Absicht auf, die moralische Wucht der Vergangenheit in aktuelle politische Handlungsmaximen zu übersetzen. An die gesellschaftsspaltende Vehemenz früherer Zwistigkeiten über die richtigen Lehren aus Auschwitz reichen derlei Versuche freilich kaum noch heran. Die Musealisierung hat zu einer Entemotionalisierung geführt.
Umso stärker schraubt sich in das Gefühlsvakuum die deutsche Nachkriegsgeschichte. Trümmerfrauen, Vertriebenenschicksale, Heimkinder, 68er-Generation, RAF-Terror. An diesen Stoffen entzündet sich heute die auf die Historie bezogene Streitlust. An ihnen wird versucht, Kausalitäten, Brüche und Kontinuitäten nachzuweisen, die Vergangenheit in die Gegenwart hineinzuziehen. An ihnen macht sich erzählte Geschichte fest, werden Begriffe wie Verbrechen, Schuld, Sühne, Verantwortung definiert. Die Überfokussierung auf die NS-Zeit hatte eine Unterbelichtung der Nachkriegsepoche zur Folge. Das kehrt sich jetzt um.
Wahrscheinlich ist dieser Prozess unumkehrbar. Das allerdings heißt nicht, dass die Vergangenheit einfach verblasst. Der Schrecken bleibt, die Scham vielleicht auch. Die Geschichtsstätten in Berlin wirken weiter, so magisch wie magnetisch, auf Einheimische wie auf Besucher. Aber ihre identitätsprägende Kraft auf Deutsche und Deutschland verlieren sie. Die Toten mahnen. Aber wen und wozu? Diese Frage entzieht sich mehr und mehr dem Diskurs. Ist das schade? Auch auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Über den Lauf der Dinge beklagen sich nur sentimentale Toren.
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