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Warum? Ein syrisches Mädchen im größten bulgarischen Flüchtlingscamp in Harmanli.
© AFP

Folter in Syrien: Und nun weiter im Pogrom

Neue Bilder, starker Verdacht: Das Assad-Regime soll Tausende Inhaftierte zu Tode gefoltert haben. Hunger, Massaker, Giftgas - und nun das? Sorgen machen muss sich der syrische Diktator allerdings nicht. Moral leistet sich der Westen nur, wenn sie garantiert zu spät kommt.

Wenn das syrische Mädchen, das sämtliche Verbrechen, die im Krieg begangen werden, mit eigenen Augen gesehen und selbst gefroren, gehungert und gelitten hat, wenn dieses syrische Mädchen, das seine Eltern verlor und jetzt in einem Flüchtlingszelt irgendwo in der jordanischen Wüste aufwächst, einmal erwachsen ist, wird es sich und die Welt fragen: Warum? Es ist eine einfache und quälende Frage. Es gibt tausend Antworten darauf, aber keine befriedigt. Denn alle, die nichts taten, haben genau gewusst, was sie durch ihr Nichtstun duldeten. Den Hunger, die Folter, die Massaker, die Giftgaseinsätze.

Nun gibt es neue Bilder. Sie sollen von einem übergelaufenen syrischen Militärpolizisten stammen und Tausende von Menschen zeigen, die in der Haft zu Tode gemartert wurden. Drei ehemalige Ankläger von Kriegsverbrechertribunalen werten sie als Beweis für „Ermordungen im industriellen Ausmaß“. Zu sehen sind ausgemergelte Körper, Leichen ohne Augen. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung, kurz vor Beginn der Friedensgespräche, mag strategisch gewählt worden sein, um weiteren Druck auf das Assad-Regime auszuüben. Doch ob mit oder ohne diesen Druck: dass die Weltgemeinschaft dem Despoten von Damaskus in die Parade fährt, ist ohnehin nicht zu erwarten.

Allein, es fehlt der Wille, die Kraft, der Mut

Warum? Diese Frage stellen sich nicht nur Opfer und Überlebende des syrischen Horrors, sondern sie bohrt sich als Anklage auch tief ins Gewissen der Zeitzeugen. Wer sie ehrlich beantwortet, flüchtet sich nicht in realpolitische Ausreden: Schutzmacht Russland, Eskalationsgefahr, kein Geld, Rebellen sind Terroristen, Afghanistan und Irak als Mahnung, Assad als Stabilitätsanker. Nein, wer wollen würde, könnte auch. Und wer vor Jahren gewollt hätte, als das Gemetzel begann, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit viele Schrecken verhindert. Allein, es fehlt der Wille, die Kraft, der Mut. Vorgestern, gestern, heute, morgen.

Der Despot von Damaskus
Der Despot von Damaskus
© dpa

Die Lehre aus der Geschichte: Die Geschichte lehrt nichts. Große Worte stehen im Raum und zerbröseln im bitteren Hohngelächter. Schwüre wurden abgelegt und von grausamer Wirklichkeit zertreten. Bekenntnisse wurden abgegeben und lassen sich seitdem jährlich wiederholen. Hier eine kleine Auswahl:

„Einige Nationen mögen in der Lage sein, Gemetzel in anderen Ländern auszublenden. Wir sind da anders.“ (Barack Obama) – „Menschlichkeit erwächst aus der Verantwortung für die Vergangenheit. Aus Gedanken müssen Worte werden. Und aus Worten Taten.“ (Angela Merkel) – „Warum hat die internationale Gemeinschaft trotz aller Absichtserklärungen Gewaltorgien, Genozide und Giftgasanschläge nicht verhindern können?

Rechtsbrüche wie ein Giftgasangriff sind unerträglich und erfordern eine angemessene Reaktion.“ (Joachim Gauck) – „Jede Generation wird eigene Wege des Erinnerns gehen müssen. Was bleibt, ist die Lehre, derartiges nie wieder zuzulassen und jedem Anfang zu wehren.“ (Frank-Walter Steinmeier)

Worte, die verhallen, offenbaren Machtlosigkeit

Und weiter: „Gezielte Angriffe auf Zivilpersonen und andere geschützte Personen sowie die Begehung systematischer, flagranter und weit verbreiteter Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsvorschriften können eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellen.“ (UN-Resolution 1674 über die Schutzverantwortung) – „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Hass, Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen.“ (Dietrich Bonhoeffer, 1940)

Macht hat der, auf dessen Wort hin etwas geschieht. Worte, die verhallen, offenbaren Machtlosigkeit. In einem Jahrzehnt wird das syrische Flüchtlingsmädchen eine junge Frau sein, mit einem tragischen Schicksal im Bewusstseinsgepäck. Spätestens dann wird der Rest der Welt wieder tun, was er am besten kann: zerknirscht sein, bedauern, „Nie wieder!“ geloben. Denn Moral leisten wir uns, wenn sie garantiert zu spät kommt.

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