WM 2014 - Deutschland im Finale: Übermut gehört nicht zum Stil von Joachim Löw
Der phänomenale Sieg der deutschen Elf gegen Brasilien hatte etwas Einmaliges. Dass eine solche Überlegenheit im Spiel möglich ist, mag für das Spiel gegen Argentinien ein Ansporn sein – und eine Warnung.
Ja, ja! Es wirkte geradezu surreal, was zwischen der 11. und der 29. Spielminute im Stadion von Belo Horizonte geschah. Die ersten fünf Tore der deutschen Nationalmannschaft gegen den WM-Gastgeber und Rekordweltmeister Brasilien hatten allen Fußballfans weltweit die Sprache verschlagen. Ein Schock nicht bloß für die Verlierer. Sogar den Siegern, auf dem Platz und vor den Fernsehschirmen und Videoleinwänden, fehlte trotz aller Lust beinahe die Luft zur unbeschwerten Freude.
Das zuvor als Finale vor dem Finale bezeichnete Match war schon zur Halbzeit entschieden. Als ein TV-Reporter hinterher nach der Stimmung in der deutschen Mannschaft fragte, hieß es, der Jubel sei eher gedämpft. Ein entscheidendes, befreiendes Tor kurz vor Schluss, und wär’s sogar ein „schmutziges“ 1:0, lässt die aufgestauten Gefühle eben vehementer explodieren als ein so früher, schneller Kantersieg. Da bleibt nur das sprachlose Staunen gegenüber dem Unfasslichen. Selbst in unseren verwegensten Träumen – oder, ist man Brasilianer: den schlimmsten Albträumen – hätte sich dieses 7:1 keiner ausmalen können. Wahnsinn.
Wahnsinn ist das Wort der Stunde
Ja, ja! Wahnsinn ist tatsächlich das Wort der Stunde. In Deutschland lagen die beiden kurzen Silben den Menschen zuletzt am 9. November vor 25 Jahren auf den Lippen. Niemand wird den Mauerfall nun mit dem Einsturz der brasilianischen Viererkette vergleichen. Aber die Engländer, mit ihrem ausgeprägten Sinn für Geschichte jeder Art und für griffige Formeln, haben das Beben von Belo Horizonte sofort begriffen: So attestiert der Londoner „Guardian“ der deutschen Mannschaft mehr als nur eine Fußballsternstunde, ihr Spiel war „one of the all-time performances“.
Manche glauben wohl an den Fußballgott. Die Brasilianer sowieso, und das dynamische Spiel der Deutschen am Dienstagabend kam ihnen gar dämonisch vor: Ein Albtraum gilt Katholiken und Spiritualisten allemal als Teufelsspuk. Wer aber hatte da nun wirklich die Hand, den Fuß und nicht zuletzt den Kopf im Spiel?
Fußball lebt wie aller großer Sport nicht allein vom Können, sondern zudem vom Glück. Wenn oft nur Millimeter über einen Pass, einen Schuss, eine Abwehr entscheiden, dann streift den Erfolg der Millimeterarbeit zugleich ein Hauch von Zufall. Thomas Mann nannte die Grundlage für einen großen Roman fünf Prozent Inspiration und 95 Prozent Transpiration. Dagegen meinte der stolze Jahrhundertkünstler Pablo Picasso: „Ich suche nicht. Ich finde.“ Sein Glück war ihm niemals nur Zufall. Und das trifft mitunter wohl auch auf das Tolle und Verrückte zu. Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode, heißt es einmal in Shakespeares „Hamlet“ über den vorgeblichen Irrwitz des Titelhelden.
Keine Spur von Hysterie: Die deutsche Elf ist geerdet
Dieses Wahnsinnsspiel der Löw-Elf hatte etwas Einmaliges und wird sich im Finale, selbst wenn Deutschland Weltmeister wird, kaum wiederholen. Aber die neuen deutschen Tugenden haben Methode und heißen Erfahrung und Eleganz, Reife und Realismus. Das Verrückte hatte dabei zuletzt eher gefehlt. Dass es trotzdem möglich ist, mag nun ein Ansporn sein – und eine Warnung.
Übermut gehört indes nicht zum Stil des Erfolgstrainers Jogi Löw, und das Geerdete von Spielern wie Neuer, Schweinsteiger, Kroos oder Müller bewahrt sie auch jetzt vor jenem Gemisch aus Erfolgsdruck und Hysterie, dem die Brasilianer offensichtlich erlegen sind. Brasilien weint, aber kann nun umso mehr noch ein würdiger, weil am Ende großzügiger Gastgeber sein.