Ukraine, Russland und der Westen: Über Lügen in Zeiten der Krim-Krise
Der Vorwurf des Faschismus gehört zur klassischen russischen Propaganda, um eigene Militäraktionen zu rechtfertigen: 1939 bei der Besetzung Ostpolens, die bereits im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden war; bei der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn 1956 oder dem Prager Frühling 1968; beim Einmarsch in Georgien 2008 oder jetzt der Annexion der Krim.
Faschisten“ und „Antisemiten“, sorgt sich Gregor Gysi, seien „zahlreich“ in der Übergangsregierung der Ukraine vertreten. Sahra Wagenknecht hat in diesem Kontext Verständnis für die Ängste der Russen; die drohende Annexion der Krim müsse man hinnehmen. In der Beschwörung des Antifaschismus lässt die Linke sich von niemandem übertreffen. Diese Tradition ist ihr offenbar wichtiger als das Völkerrecht. Und als die Wahrheit.
Warum nennen Gysi und Wagenknecht nicht die Namen dieser „zahlreichen“ Rechtsextremisten in der neuen Regierung in Kiew? Vermutlich, weil ihnen nur einer einfällt, auf den die Behauptung passen könnte: Vizepremier Oleh Tjahnybok, Chef der rechtsnationalen Partei „Swoboda“. Allerdings dürfte es schwerfallen, faschistische oder antisemitische Äußerungen von ihm aus den letzten Jahren zu finden. Die „Swoboda“ hatte vor 2004, als Tjahnybok an ihre Spitze trat, rechtsradikale Traditionen gepflegt. Er hat die Partei jedoch aus dem rechten Sumpf herausgeführt. Damit gewann sie Zustimmung und erreichte in der Parlamentswahl 2012 zehn Prozent. Nach einer aktuellen Umfrage liegt sie jetzt bei gut vier Prozent. Vertreter deutscher politischer Stiftungen in Kiew erklären dies mit der massiven Propaganda-Offensive Russlands. Sie werten den Rückgang also als Beleg, wie wenig empfänglich die ukrainische Gesellschaft für rechtes Gedankengut sei.
Gegen die Behauptung, die neue Regierung sei antisemitisch, spricht auch der Umstand, dass sie Spitzenpositionen mit Ukrainern jüdischer Herkunft besetzt, zum Beispiel Wolodimir Groisman als Minister der Regionen, Igor Kolomojskij als Gouverneur von Dnepropetrowsk, Sergij Taruta als Gouverneur von Donezk.
Vertreter der jüdischen Gemeinden in der Ukraine reagieren geradezu empört auf den Vorwurf eines hervorstechenden Rechtsradikalismus und Antisemitismus in ihrem Land. Josef Zissels, Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen in der Ukraine und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, sagt, in der Ukraine gebe es weniger antisemitische Gewalt als in Deutschland oder Frankreich – und allemal weniger Neofaschisten als in Russland. Anatolij Schengait, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Kiew, macht sich mehr Sorgen um die Lage in der Ostukraine. Nach Berichten deutscher Journalisten sickern russische Neofaschisten in die Region Charkiv ein und wiegeln die russischstämmigen Bürger auf. Ein Vorbote für Wladimir Putins nächstes Expansionsziel, natürlich erneut unter der Behauptung, er müsse von Faschismus und Antisemitismus bedrohten Russen zu Hilfe eilen?
Der Vorwurf des Faschismus gehört zur klassischen russischen Propaganda, um eigene Militäraktionen zu rechtfertigen: 1939 bei der Besetzung Ostpolens, die bereits im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden war; bei der Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 oder Prag 1968; beim Einmarsch in Georgien 2011 oder jetzt der Annexion der Krim.
Ein ähnlich leichtfertiges Echo findet die Propagandabehauptung, die Krim gehöre seit ewigen Zeiten zu Russland und ihre Bewohner fühlten sich selbstverständlich als Russen – was den Ausgang des Referendums vorhersehbar mache. Die Krim kam erst vor gut 200 Jahren unter russischen Einfluss. Davor hatte Moskau das umgekehrte Problem, dass sein Gebiet von stärkeren Herrschern in der heutigen Ukraine sowie dem Osmanischen Reich dominiert wurde. Auch nach mehreren Krimkriegen blieben die Russen eine Minderheit auf der Halbinsel. Das änderte sich erst mit der Zwangsumsiedlung der Krimtataren durch Stalin im Zweiten Weltkrieg. In deren Verlauf kam nahezu die Hälfte dieses Volkes ums Leben. Die heutigen Bevölkerungsverhältnisse und das leichte Übergewicht russischstämmiger Bürger sind Ergebnis einer „ethnischen Säuberung“, die erst wenige Jahrzehnte zurückliegt.
Dennoch stimmten beim Referendum 1991 54 Prozent auf der Krim für eine unabhängige Ukraine. Putin weiß sehr wohl, dass ein Votum für Russland auch heute unter fairen Bedingungen nicht garantiert ist. Deshalb lässt er die Krim von russischen Soldaten besetzen. Deshalb wurde das Referendum zwei Mal vorgezogen, damit sich keine Gegenbewegung formieren kann. Deshalb wird OSZE-Beobachtern der Zugang verweigert. Und deshalb wird die Krim mit russischer Propaganda beschallt.
Das Pseudo-Referendum auf der Krim und die Rechtfertigung der russischen Aggression mit Antifaschismus sind eine Farce.
Christoph von Marschall