Nazi-Regime: So geschah, was nicht geschehen musste
Vor 75 Jahren, am 30. Januar 1933, begann die Herrschaft Hitlers. Die Verbrechen des NS-Regimes waren damals nicht absehbar.
Das ganze Unglück des 30. Januar 1933 steckt in dem einen Satz, den der ultrakonservative Franz von Papen tags zuvor einem Vertrauten entgegnete, der vor der Kanzlerschaft Adolf Hitlers warnte: „Sie irren sich, wir haben ihn uns engagiert.“
Was für ein Irrtum! NS-Propagandaleiter Joseph Goebbels wusste besser, was die Ernennung seines Parteichefs bedeutete. „Hitler ist Reichskanzler. Wie im Märchen!“, notierte er verzückt in seinem Tagebuch, einen Tag nach dem Fackelzug der SA durch das Brandenburger Tor. Der Zug von Hunderttausenden, meist spontan mitmarschierenden Anhängern ist das Menetekel der vor 75 Jahren anhebenden Schreckensherrschaft. Sechseinhalb Jahre später setzte das Regime ganz Europa in Brand.
Gerade am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, liegt es nahe, das selbsternannte „Dritte Reich“ von seinem furchtbaren Ende her zu sehen, von Terror, Kriegsentfesselung und Völkermord. Doch die Verbrechen des Regimes waren seinen Anfängen, wie rechtsbrecherisch und gewalttätig sie auch sein mochten, nicht eingeschrieben. Dass die Republik, die 1919 von der Verfassunggebenden Nationalversammlung im Weimarer Theater begründet worden war, tatsächlich zu Ende war, sollte sich in Windeseile erweisen. Dass sie nicht zu Ende hätte gehen müssen, ja womöglich noch nicht einmal mit Hitlers Ernennung durch den lange zögernden Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zu Ende war, ist historische Spekulation – doch in Anbetracht der dramatischen Umstände des Winters 1932/33 nicht von der Hand zu weisen.
Ersichtlich jedenfalls ist, dass die Zeitgenossen in Hitlers Aufstieg nicht diejenige Geschichte vorgezeichnet finden konnten, die nach dem 30. Januar abzulaufen begann und deren unheimliche Folgerichtigkeit sich erst der Rückschau des Historikers erschließt. Wenn Ian Kershaw, der Autor der umfassendsten Hitler-Biografie, knapp konstatiert, dass die Ereignisse vom Januar 1933 sich zuspitzten „zu einem außergewöhnlichen politischen Drama, das sich jedoch weitgehend außer Sicht des deutschen Volkes abspielte“, so bezeichnet dies exakt das Dilemma der nachträglichen Bewertung gegenüber jener aus dem Tag heraus.
Gewiss, sogar Erich Ludendorff – ausgerechnet er, der Hasardeur der Weltkriegsführung ab 1916 und spätere Mitläufer von Hitlers kläglich gescheitertem Münchner „Marsch auf die Feldherrenhalle“ 1923 – hielt Hindenburg nach der Ernennung Hitlers die „Prophezeiung“ entgegen, „dass dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfassbares Elend stürzen wird“. So viel Weitsicht war nur wenigen gegeben. Aus Berlin beispielsweise schrieb Betty Scholem am 7. Februar 1933 an ihren Sohn, den Philosophen Gershom (Gerhard) Scholem, „eine Grippewelle und Heil Hitler beherrschen den Markt“. Die beiläufige Notiz der Fabrikantengattin, der sich zahllose Äußerungen aus jenen Tagen an die Seite stellen ließen, ist doppelt bemerkenswert, spiegelt sie doch die Stimmung weiter Kreise der Wirtschaft ebenso wider wie die fatale Fehleinschätzung der assimilierten jüdischen Deutschen.
Es war eben nicht nur eine Grippewelle, die in den kalten Wintermonaten zu Beginn des Jahres 1933 über Deutschland hinwegging. Aber es war auch nicht die uhrwerksartig ablaufende Machtübernahme, als die die Vorgänge um den 30. Januar 1933 meist gesehen werden. Es war das für Hitler glückliche Ende eines Vabanquespiels, das seine Partei, die einzig vom Hass auf das „System“ der parlamentarischen Demokratie getrieben war, im Herbst 1932 in eine existenzbedrohende Zerreißprobe getrieben hatte. Was, wenn sich die NSDAP damals zur Bedeutungslosigkeit zerspalten hätte?
Für die Zeitgenossen war das „Was wäre, wenn“ höchst real. Die Geschichte kennt niemals nur einen einzigen Ausgang. Was sie allerdings kennt, ist die aus Naivität und Fatalismus gleichermaßen gespeiste Unterstützung, die eine einmal eingeschlagene Fahrtrichtung aus der Breite der Gesellschaft erfährt. Die Stimmanteile, die die NSDAP bei den Wahlen 1932 und 1933 erzielte, sprechen Bände. Vor allem aber der Umstand, dass sich die Weimarer Demokratie ab Mitte 1932 nur noch auf eine Minderheit der Wähler stützen konnte. Die Extreme, rechts wie links, haben Weimar zerstört.
Es ist ein ganzes Bündel von Umständen, das Hitlers Aufstieg ermöglichte und ihm den Nährboden bot, auf dem seine zuvor verlachten Parolen gedeihen konnten. Die Weltwirtschaftskrise und die katastrophal falsche Reaktion der deutschen Notverordnungs-Kanzler ohne parlamentarische Mehrheit, allen voran Heinrich Brüning, waren ebenso wenig der Hauptgrund wie die Zahl von sechs Millionen registrierten Arbeitslosen im Winter 1932/33, trotz Hunger und Elend. Die fatale Spaltung der Arbeiterbewegung in eine legalistische SPD und eine bolschewistische KPD lähmte den Widerstand gegen den salonfähig werdenden Hitler. Das konservative Beamtentum trug ebenso wenig die Hauptverantwortung wie das preußisch-monarchistisch gesonnene Offizierskorps der Reichswehr, von den ostelbischen Junkern ganz zu schweigen. Die Zahlungen der Großindustrie flossen in nennenswertem Umfang erst, als Hitler bereits an der Macht war, dann allerdings in enormen Summen.
Inwieweit der Schock, den die Novemberrevolution von 1918 im konservativen Bürgertum und im abstiegsbedrohten Mittelstand ausgelöst hatte, zu einer latenten Bürgerkriegsstimmung führte, wie Ernst Nolte mit Blick auf das „Schreckbild“ Sowjetrussland vermutet, lässt sich kaum entscheiden. Aber all dies wirkte mit, jene einzigartige Lage zu schaffen, in der aus dem „böhmischen Gefreiten“ der „Führer und Reichskanzler“ werden konnte.
Hitlers Machtergreifung vor 75 Jahren war der tiefste Einschnitt in die deutsche Geschichte. Nie zuvor brach eine Gesellschaft, unbedrängt von äußerem Krieg, derart die Brücken zu ihrer Herkunft ab. Aus einem wenngleich verspätet an die westeuropäische Entwicklung der Demokratie angeschlossenen, auf ein ungemein reiches kulturelles Erbe und eine nach 1918 neu errungene geistig-kulturelle Blüte blickenden Gemeinwesen wurde in kürzester Frist eine barbarische Diktatur, geleitet von ebenso verschwommenen wie blutrünstigen Phrasen wie der „Vernichtung des Weltjudentums“, die ein braun uniformierter Pöbel in der Kurzform „Juda verrecke!“ durch die Bierkeller grölte.
Doch um aus dem „Land der Dichter und Denker“ das Land der „Richter und Henker“ zu machen, gab es keinen Plan. Die – mit dem Begriff Hans Mommsens – „kumulative Radikalisierung“ des Systems bahnte den Weg; freilich, und das gilt es mit Ian Kershaw festzuhalten, nicht ohne Hitlers zentrale Handlungsmacht und seine allgegenwärtige Präsenz. Je radikaler die Forderungen des „Führers“ und seiner Satrapen, desto fügsamer die Antworten des gut funktionierenden Staatsapparates; je geringer der Widerstand des Auslandes, desto unverfrorener das Vorgehen der NS-Kriegspolitik. Mit dem Wachstum der NSDAP als der Kerntruppe der „völkischen Weltanschauung“ wuchs der Einfluss der kruden Gedanken, die früher nicht einmal Bruchteile der Wählerschaft hatten mobilisieren können. Bereits Ende 1932 zählte die Partei 1,4 Millionen Mitglieder, scharten sich in der SA 400 000 Uniformierte – Zahlen, die sich mit den „Märzgefallenen“, den massenhaft zuströmenden Mitläufern nach der Festigung des Regimes durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März, vervielfachten. Und doch war es weit eher die beständig beschworene „Ausrottung des Bolschewismus mit Stumpf und Stiel“, die die Massen berauschte, als die „Rassenlehre“, deren mörderische Konsequenz wohl allein Hitler von Anfang an im Sinn hatte.
Neuere Forschungen zeigen überdies, wie fragil die nach außen so selbstsichere Herrschaft Hitlers in den Anfangsjahren war. Die These Götz Alys von der auf sozialen Ausgleich bedachten „Gefälligkeitsdiktatur“ der Nazis und die Untersuchung Adam Toozes zur Finanzakrobatik der „Ökonomie der Zerstörung“ schließen einander nicht aus. Das auf keine formelle Legitimation mehr angewiesene Regime mit seiner vielfach verfranzten und überkreuz verflochtenen Entscheidungsfindung konnte die entscheidenden Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme immer weiter vertagen, bis die Kriegsführung mit der aberwitzigen Hoffnung auf den „Endsieg“ eine rationale Begründung politischer Handlungen entbehrlich machte. In den Anfangsjahren konnte das Regime propagandistisch auf die Agoniejahre der Weimarer Demokratie verweisen, um seine Erfolge bei der ökonomischen Stabilisierung umso glänzender herauszustellen. Nicht so sehr, dass der Autobahnbau einige hunderttausend Arbeitslose in kargen Lohn setzte, blendete die Deutschen, sondern die von der Propaganda meisterlich inszenierte Botschaft, dass überhaupt etwas geschieht.
„Die Konsolidierung des Hitler- Regimes“, schreibt Hans-Ulrich Wehler in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, lasse sich „überzeugend nur dann erfassen, wenn man das Wechselspiel zwischen einer immer belastbarer fundierten charismatischen Einherrschaft zum einen und einer immer vorbehaltloser zustimmenden Gesellschaft zum anderen als Schlüsselphänomen ins Auge fasst“. Erst die Dynamik der Machtentfaltung als Wechselspiel von Herrschern und Beherrschten vermag zu erklären, wie es zu der furchtbaren Radikalisierung eines im europäischen Rahmen von 1933/37 durchaus nicht ungewöhnlichen autoritären Regimes kommen konnte.
1936 veröffentlichte John Maynard Keynes seine „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“. Sie erschien unmittelbar darauf in deutscher Übersetzung. Die wirtschaftstheoretische Analyse der Krise von 1929 mündet in Handlungsanweisungen, die in rudimentärer Form bereits von den Nazis praktiziert wurden. Das staatliche Konjunkturprogramm, das Brüning zuvor abgelehnt hatte, machten Hitler und Göring auf ihre Weise wahr. Das „unablässige Verlangen nach einer Legitimierung durch die Massen“ – wie der in Cambridge lehrende Richard J. Evans mit Blick auf die Propagandamaschinerie formuliert – wurde, so Aly, vornehmlich durch sozialpolitische Gefälligkeiten hergestellt. Goebbels’ Tagebucheintragung, „noch sozialistischer als früher haben wir uns an das Volk anzuschließen“, stammt zwar von 1943, lässt sich aber als Grundzug der Arbeits- und Sozialpolitik seit 1933 ausmachen. Dass sich, Tooze zufolge, zugleich die Rüstungsausgaben bis zur Entfesselung des Krieges real verzwanzigfachten, beleuchtet die Mehrgleisigkeit der NS-Politik, die sich zumindest bis zum Ausnahmezustand der Kriegszeit nicht allein auf den freilich immer alltäglicher werdenden Terror gründete.
„Wie es geschehen konnte“, ist die bleibende Frage an die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945. Sie wird mit der Darstellung der Machtergreifung von 1933 – in ihren Stufen von Hitlers Ernennung über Reichstagsbrand und Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ Ende Februar bis zum Ermächtigungsgesetz vom 23. März – nicht beantwortet. Mit dem 30. Januar 1933 war der Weg gebahnt, aber durchaus nicht bis zum KZ Auschwitz vorgezeichnet.
Die Gründer der Bundesrepublik Deutschland haben versucht, die Lehren zu ziehen. Die Stabilität der parlamentarischen Demokratie und ihrer Verfassungsorgane, zugleich aber die der gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Banner der „sozialen Marktwirtschaft“, ist die unmittelbare Antwort der Bundesrepublik auf die Selbstpreisgabe der Weimarer Republik wie auf den Zerfall der Gesellschaft im massenhaften Elend der Wirtschaftskrise. Dass das 1990 wiedervereinte Deutschland die millionenfache Arbeitslosigkeit auf einem – vom Hungerwinter 1933 aus gesehen – unvorstellbar hohen Wohlstandsniveau aufgefangen hat, belegt die erfolgreiche Schlussfolgerung aus den damaligen Fehlern.
Diejenige hinsichtlich des Auseinandertreibens der Gesellschaft steht weiterhin auf der Tagesordnung. Es wird keinen zweiten Hitler in Deutschland geben; derart wiederholt sich Geschichte nicht. Aber dass Radikalisierung und Spaltung einer Gesellschaft mit allen nur denkbaren, verheerenden Folgen niemals ausgeschlossen werden können und als potenzielle Gefährdung mitbedacht werden müssen, ist die bleibende Lehre aus dem 30. Januar 1933 und der Machtergreifung Adolf Hitlers.
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