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Der französische Präsident Francois Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl reichen sich am 22.09.1984 über den Gräbern von Verdun die Hand - ein Symbol für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland.
© dpa

Friedensnobelpreis an die EU: Seltsam, schwierig... Doch warum eigentlich nicht?

Mitten in der Dauerkrise bekommt die EU den Friedensnobelpreis. Was zunächst seltsam scheint, ist eine mutige, kluge und richtige Entscheidung. Denn die Welt braucht mehr EU.

Die ersten Meldungen waren schon kurz nach zehn Uhr morgens durchgesickert, pünktlich zum Kaffee musste man verdauen, dass die EU den Friedensnobelpreis bekommt. Zumindest war dies das erste Gefühl: Was zum Teufel ist da eigentlich los? Warum die EU? Warum der Friedensnobelpreis? Warum genau jetzt? Und gibt es nicht irgendwo auf dieser Welt noch heldenhafte Dissidenten, die eine solche Auszeichnung wirklich brauchen?

Selbst wenn man der Europäischen Union positiv gegenüber steht, wie der Autor dieses Artikels, beschleicht einen doch unweigerlich dieses Obama-Gefühl, von damals, 2009, als der noch nicht entzauberte Politmessias den Preis bekam. Wenn man Sympathie für ein politisches Projekt hegt, und sowohl Obama als auch die EU sind historische politische Projekte, dann will man, dass es erst Preise verdient, bevor es sie erhält. Sonst werden die Auszeichnungen zur Bürde, im schlimmsten Fall zur Munition für die Gegner, die dann gerne heuchlerisches Gutmenschentum am Werk wähnen.

Die EU war in den letzten vier Jahren ein Synonym für die Krise, ob es nun korrekterweise vor allem eine Staatsschuldenkrise, eine Finanzmarktkrise oder eine moralische Krise ist, interessiert die Menschen nicht vordergründig. Sie machen dieses Gebilde aus so unterschiedlichen Staaten für ihre Probleme verantwortlich. Doch die EU hat nicht erst seit 2008 ein Imageproblem. Wenn heutzutage der wütende Demonstrant mit einem Transparent in der Hand die Personifikation der EU ist, so war es vorher der Bürokrat im grauen Anzug, der den lieben langen Tag die Krümmung von Bananen bestimmt und sinnlose Vorschriften dazu verfasst. Die EU ist in den Lebensrealitäten der Menschen angekommen, in den Herzen der meisten Europäer ist sie es nicht. Was vor allem an nationalen Politikern liegt, die den Bürgern alle Segnungen gerne als landesspezifisch und alle Zumutungen als von Europa verschuldet präsentiert.

Je mehr Zeit an diesem Vormittag vergangen ist, das Komitee hatte mittlerweile offiziell verkündet, der zweite Kaffee war ausgetrunken, desto mehr drängten sich andere Fragen in den Vordergrund: Warum eigentlich nicht? Warum sollte nicht die EU diesen Preis bekommen? Als 2001 die UN ausgezeichnet wurde, hatte sie mit ihrem Generalsekretär Kofi Annan ein Gesicht, es ist immer leichter mit einem charismatischen Menschen empathisch zu sein als mit einer Institution. Der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, taugt als Identifikationsfigur nicht, weil... was, Sie fragen sich, wer das ist? Genau deshalb ist er vielleicht Mr. EU, aber nicht der gefühlte Kopf der Union, kein Identitätsstifter.

Sozial im Kleinen, nachhaltig im Großen

Man muss also nachsichtiger mit ihr sein, mit dieser Gemeinschaft von Staaten, man muss von ihr überzeugt sein ohne überzeugende Köpfe, ohne überzeugende Krisenkonzepte und ohne unregelmäßig gekrümmte Bananen. Möglich ist das. Aus drei Gründen.

Nach dem Testament des schwedischen Dynamit-Erfinders Alfred Nobel soll der Friedensnobelpreis Persönlichkeiten oder Organisationen auszeichnen, die am meisten auf „die Verbrüderung der Völker“ hingewirkt haben. Besonders hervorgehoben wurden „die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere“ sowie die Ausrichtung von Friedenskongressen. Und auch wenn die in den letzten Monaten oft erwähnten Europa-Friedens-Ideale der Helmut-Kohl-Generation heute überholt, weil selbstverständlich vorhanden wirken, wird niemand bestreiten, dass die EU den längsten Friedenslauf der europäischen Geschichte ermöglicht hat.

In der aktuellen Dauerkrise wird überdies gerne vergessen, dass die EU eine unglaubliche wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ist. Wer das bezweifelt, möge sich die Geschichte von Ländern wie Irland der letzten 100 Jahre anschauen und überprüfen, wie oft dort das Wort Hungersnot vorkommt. Auch Portugal, Griechenland und andere jetzt kriselnde Länder waren nach heutigem Maßstab vor 50 Jahren noch Entwicklungsländer.

Und drittens pflegt das Komitee den Friedennobelpreis als Aufforderung zu mehr vom Guten vergeben. In diesem Fall, bei der EU, also zu mehr Kooperation, mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit. Vor allem aber als Aufforderung, dieses geniale, große Projekt Europäische Union nicht einfach vor lauter nationaler Egoismen und politischer Kurzsichtigkeit vor die Hunde gehen zu lassen. Nicht nur die EU braucht mehr EU, auch die Welt tut das. Der Kern der Union ist nicht der Euro, sondern die Idee von einem sozialen Miteinander im Kleinen und einem nachhaltigen Wirtschaften im Großen. Wo sonst auf der Welt gibt es ein auch nur ansatzweise vergleichbares Projekt? Das Nobelpreiskomitee hat eine antizyklische, zunächst wenig verständliche und gefühlt seltsame Entscheidung getroffen. Aber es war eine gute.

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