Meinung: Schattengewächse vom Balkan
Die zweite Runde der EU-Erweiterung kommt zur Unzeit
Braucht die EU noch mehr Mitglieder? Verträgt sie in nächster Zeit überhaupt weitere, wo sie doch damit beschäftigt ist, die Mammuterweiterung von 15 auf 25 Staaten vor einem Jahr zu verdauen? Ihre heutigen Bürger haben in der überwältigenden Mehrheit gewiss das Gefühl, dass sie sehr gut ohne Rumänien und Bulgarien zurechtkommen.
Es wirkt symbolisch, dass die Unterzeichnung der Beitrittsverträge gestern ziemlich unterging. Für die Deutschen stand sie völlig im Schatten der großen Probleme, die sie mit „dem Osten“ verbinden: in Form der Visa-Affäre so gut wie in der Debatte um Billiglöhne und unpatriotische Unternehmer, die „im Osten“ investieren.
Edmund Stoiber, der ein feines Gespür für solches Bauchgrimmen im Volke hat, fordert nun Nachverhandlungen. Das ist doppelt populistisch. Erstens enthalten die Verträge Notbremsen, die die geplante Aufnahme 2007 stoppen, falls die Probleme zu groß werden. Da muss man nichts nachverhandeln, sondern diese, wenn nötig, anwenden. Zweitens ist Stoibers unausgesprochene Suggestion, Deutschland könne dem Druck des Lohn- und Sozialgefälles ausweichen, wenn Bulgaren und Rumänen länger oder gar auf ewig draußen blieben, eine Illusion. Eher ist das Gegenteil richtig: Wenn überhaupt Chancen auf eine allmähliche Angleichung bestehen, dann durch Integration und nicht durch Ausgrenzung.
Doch es geht gar nicht um die totale Anpassung, weder um das Absenken deutscher Löhne und Standards auf bulgarisches Niveau – das ist hysterische Panikmache; noch um die rasche Vervielfachung rumänischer Einkommen. Schon die alte EU-West konnte sehr gut mit Spreizungen von 30 bis 50 Prozent zwischen reichen Mitgliedern wie Luxemburg und den ärmeren wie Griechenland oder Portugal leben.
Die Beitrittsverträge Rumäniens und Bulgariens kommen dennoch zur Unzeit. Zum einen, weil beide Länder heute schlechter vorbereitet sind als Ungarn oder Polen anderthalb Jahre vor deren Beitritt. Entscheidend ist nicht, wie viel Prozent ihrer Gesetze an den Besitzstand der EU angepasst sind, sondern die Fähigkeit zur Anwendung im Alltag. Der jährliche Fortschrittsbericht wird da wieder einige Defizite ausweisen, von der Korruption bis zum Wettbewerbsrecht. Und diese Fehler werden bis 2007 wohl kaum behoben sein.
Zum anderen ist das Timing schlecht, weil die EU ihren Bürgern nicht so recht sagen kann, welche Vorteile sie von der Aufnahme der zwei Länder 2007 haben. Weder ist damit ein so strategischer Gewinn an Stabilität und Sicherheit verbunden wie bei der Erweiterung um ganz Ostmitteleuropa vor einem Jahr, noch wird der Binnenmarkt so dynamisch belebt wie im Falle Polens, Ungarns und Tschechiens. Die zweite Ost-Erweiterung klappert irgendwie hinterher – und ist doch zugleich verfrüht.
Womit sich der Kreis zu Europas Drama schließt. Auch die EU ist nach dem Gefühl ihrer Bürger zu schnell und zu langsam zugleich. Zu langsam, weil sie noch lange nicht jener entscheidungsstarke und handlungsfähige Staatenbund ist, den die Menschen sich wünschen. Und zu schnell, weil die gleichen Menschen das Gefühl haben, sie kämen nicht mehr mit bei all den Veränderungen von der Verfassung über die Erweiterung bis zur Vertiefung.
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