Religion in Berlin: Rückgang des Glaubens? Keine Bewegung ohne Gegenbewegung
Auch die Kirchen bleiben von Mitgliederschwund nicht verschont. Die Menschen sind selbstbestimmter und eigenverantwortlicher geworden. Doch Wertebewusstsein und einen tiefen Sinn für Zusammenhalt hat die nachwachsende Generation sehr wohl.
Seit 1993 hatte er die Zeitung abonniert, aber nach 21 Jahren packte ihn der Zorn und er kündigte den Bezug des Tagesspiegels. Er habe, schrieb er vor kurzem, „die Tendenz, christliche Positionen zu unterstützen, mit wachsendem Misstrauen zur Kenntnis genommen“. Das Fass zum Überlaufen brachte für ihn eine Doppelseite, auf der Volontäre der Evangelischen Journalistenschule ihre Projektarbeit über Glauben und Unglauben in Berlin vorstellten.
Es war die einzige Kündigung deswegen. Aber die Reaktion eines West-Berliner Lesers spiegelt ein Phänomen wieder, das die jungen Journalisten entdeckt hatten: In den östlichen Stadtbezirken hat sich die Zahl der Christen in den letzten 20 Jahren von einem niedrigen Niveau aus verdoppelt, im Westteil ist sie von einem weit höheren Ausgangspunkt um 30 bis 50 Prozent zurückgegangen. Ein Fest voller Freude wie Ostern fordert geradezu heraus, über dieses Gegeneinander von Aufstieg auf der einen und Niedergang auf der anderen Seite nachzudenken.
Die Menschen binden sich weniger an Institutionen
Die Menschen sind freier geworden, sie binden sich weniger an Institutionen. Von dem Schwund, über den Parteien und Gewerkschaften klagen, bleiben auch die Kirchen nicht verschont. Das Mehr an Freiheit ist für die Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen wichtig. In einer süddeutschen Kleinstadt vor 50 Jahren aus der Kirche auszutreten, konnte gesellschaftliche Ächtung nach sich ziehen. Wer sich hingegen vor 50 Jahren in einer ostdeutschen Mittelstadt öffentlich zur Kirche bekannte, verbaute sich jede berufliche Entwicklung und zerstörte die Chancen seiner Kinder.
Heute ist der Kirchenaustritt im Westen so wenig sanktioniert wie der Kircheneintritt im Osten. Dennoch ist das Gebiet der früheren DDR immer noch die religionsfreieste Gegend weltweit. In der Anonymität der Millionenstadt ist der Abschied von der Kirche, der als Institution die Agnostiker ohnedies misstrauen, nicht mehr als eine Fingerübung. Der frühere evangelische Landesbischof Wolfgang Huber beschrieb die Berliner Sondersituation als Aufeinandertreffen des gelehrten Materialismus des Ostens mit dem gelebten Materialismus des Westens.
Karitatives Engagement stärkt Vertrauen in die Kirchen
Aber auch hier gilt, dass es keine gesellschaftliche Bewegung ohne Gegenbewegung gibt. Zum Missbehagen der traditionell auch in West-Berlin eher kirchenfernen Politik boomen konfessionelle Schulen. Ob es wirklich innere Zuwendung zur katholischen oder evangelischen Kirche ist, die die Eltern antreibt, oder die Zuversicht, dort würden verlässlich humanitäre Werte vermittelt und ein guter Unterricht erteilt, steht dahin.
Daneben stärkt vor allem das karitative Engagement das Vertrauen in die Kirchen. Ob es ihre Rolle bei der Lösung des Flüchtlingsproblems am Oranienplatz war oder die bewundernswerte Arbeit der Berliner Stadtmission unweit des ehemaligen Lehrter Bahnhofs, ob Kältebusse oder Obdachlosenbetreuung, die Kirchen stehen für Anteilnahme und Zuwendung.
Aus institutioneller Sicht könnten Kirchenleitungen die Reduzierung der Religionsgemeinschaft auf ihre soziale Funktion bedauern. In Wirklichkeit ist das eine wunderbare Basis des Vertrauens, aus der sich Glaube nicht entwickeln muss, aber kann. Denn Wertebewusstsein und einen tiefen Sinn für Zusammenhalt hat die nachwachsende Generation sehr wohl. Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis auch die Brücke zu dem Mann, der den Tagesspiegel eigentlich nicht mehr lesen wollte.
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