Italien übernimmt EU-Ratspräsidentschaft: Renzi, der Retter
Italien gleicht einem goldenen Augiasstall. Durch Korruption, Steuerbetrug und Misswirtschaft sind selbst im reichen Norden inzwischen viele Städte so pleite, dass sie beim staatlichen Energieversorger Enel ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Doch endlich ist einer da, der mit beispiellosem Elan das Land reformiert - Matteo Renzi.
Es ist ein Land der Regionen und stolzen Stadtkulturen, von Turin bis Palermo. Zur Nation macht Italien nur die Squadra Azzurra, die azurblaue Fußballnationalmannschaft. Deshalb war das frühe Ausscheiden des viermaligen Weltmeisters in Brasilien im ersten Moment eine nationale Katastrophe. „Lo sfascio“ titelten die Zeitungen: der Zusammenbruch. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich Erstaunliches. Natürlich waren die Umstände der italienischen Niederlage gegen Uruguay ungerecht und skandalös (der Schiedsrichter, der Schulterbiss). Man muss sich nur mal vorstellen, etwas Ähnliches wäre den Deutschen widerfahren. Dann hätte mindestens „Bild“ die diplomatischen Beziehungen zu Mexiko (der Schiedsrichter) und Uruguay (der Kannibale) abgebrochen.
Das sonst so fußballnärrische Italien demonstriert indes eine überraschende, selbstkritische Gelassenheit. Allen voran der stilbewusste, gentlemanhafte Nationaltrainer Prandelli. „Auch im italienischen Fußball muss sich eben etwas ändern!“, sagen einem dieser Tage alle: vom jungen Barmann an der Espressomaschine bis zur älteren Dame aus bürgerlichen Kreisen, und man merkt am Kenntnisstand, warum die rosarote „Gazetta dello Sport“ Italiens meistgelesene Tageszeitung ist.
Und so kommt es, dass Ministerpräsident Matteo Renzi an diesem Dienstag, wenn Italien für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, aktuell keineswegs geschwächt dasteht. Ohne die beliebte Analogie zwischen Fußball und Politik zu strapazieren: Ein WM-Erfolg wirkt normalerweise für eine Regierung und die gesellschaftliche Stimmung beflügelnd, und wie es umgekehrt bei einem Scheitern aussehen mag, das wird sich zurzeit Brasiliens Präsidentin in ihren Albträumen ausmalen. Dem 39-jährigen Renzi aber – dem jüngstem Regierungschef in einem Kernland Europas (und in Italien seit Mussolini) – könnte das jähe Aus der Azzurri noch unverhofft in die eigenen Karten spielen. Denn Änderung, cambio, ist das Wort der Stunde.
Renzi hat sich, gestärkt auch durch den Sieg bei den Europawahlen, mit einem beispiellosen Elan darangemacht, sein Land zu reformieren. Verfassungsänderungen sollen die Blockade zwischen römischem Senat und Abgeordnetenhaus zugunsten von Parlament und Regierung beenden, die Privilegien und grotesken Auswüchse der alten politischen Klasse werden bereits beschnitten. Renzi strebt eine Entbürokratisierung der Verwaltungen und des Arbeitsmarkts an und appelliert an die Italiener, dass sie für Verkrustungen und die weltweit fünfthöchste Staatsverschuldung auch selber verantwortlich sind. Also nicht nur Brüssel, das globale Finanzkapital oder die teutonische Geizkrägin Angela Merkel.
Nach Jahrzehnten politischer Intrigenwirtschaft, nach Bluff und Betrug (Berlusconi) oder Selbstfesselung und Kleinmut (Prodi, Monti, Letta) scheint in dem Florentiner Babyface Renzi eine Mischung aus freundlichem Machiavelli und charmantem Savanarola zu stecken. Er hat den eitlen Anarchisten Beppo Grillo und dessen Fünfsterne-Bewegung entzaubert und paktiert, wenn es drauf ankommt, auch mit dem an Schwanz und Hörnern geschrumpften Teufel, dem alten Restberlusconi. Nicht nur römische Auguren sprechen zudem immer öfter von einem Pakt Renzi-Merkel. Das deutsche Erfolgsmodell ist Renzis erklärtes Vorbild, bis hin zur dualen Ausbildung als Rezept gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Die Italiener möchten dabei nur eines nicht: „nach Merkels Kommando tanzen“ (so der Mailänder „Corriere della Sera“).
Renzis Projekt während der italienischen Ratspräsidentschaft wird darum sein: die von den südeuropäischen Krisenstaaten längst geforderte Modifikation der rigorosen Sparpolitik à la Merkel zugunsten produktiver Investitionen durchzusetzen. Renzis Chancen stehen dafür nicht schlecht, weil er im Unterschied zu Frankreichs gelähmtem Präsident Hollande auf erste reale, teilweise sogar brachiale Reformen im eigenen Haus verweisen kann. Italien gleicht einem goldenen Augiasstall. Durch Korruption, Steuerbetrug und Misswirtschaft sind selbst im reichen Norden inzwischen viele Städte so pleite, dass sie beim staatlichen Energieversorger Enel ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Alles muss sich ändern, damit es bleibt, wie es ist. Renzi, der Ex-Bürgermeister von Florenz, kennt diesen berühmten Satz aus Tomasi di Lampedusas Sizilien-Roman „Der Gattopardo“.
Er möchte, dass nicht alles bleibt, wie es ist – damit sich überhaupt etwas ändert, zwischen Palermo und Turin.