So tickt die Jugend: Optimistische Egotaktiker
No Future? Im Gegenteil. Die junge Generation nimmt die Herausforderungen an: Sie verbindet Selbstverwirklichung mit Selbstdisziplin.
Jugendstudien haben Konjunktur. Neben den Shell-Jugendstudien, die alle vier Jahre als große repräsentative Untersuchungen erscheinen, haben sich inzwischen auch die Sinus-Milieu-Jugendstudien etabliert. Die letzte erschien in diesem Frühjahr. Seitdem wurden noch eine große Untersuchung des Bankenverbandes, vor wenigen Wochen der Industriegewerkschaft Metall und einige weitere kleine Studien veröffentlicht.
Warum ist es so wichtig und interessant geworden, etwas über Lebensstil, Mentalität, Meinungen und Werthaltungen der jungen Generation zu erfahren?
In den vergangenen fünfzehn Jahren konnten die meisten Unternehmen nach sehr anspruchsvollen Kriterien diejenigen Nachwuchskräfte auswählen, die besonders gute Abschlusszeugnisse hatten und besonders gut zu ihnen passten. Es herrschte eine strukturelle Jugendarbeitslosigkeit. Junge Leute mit schlechten Schulzeugnissen oder ohne einen Schulabschluss wurden von vielen Unternehmen gar nicht erst als Bewerber in Betracht gezogen. Etwa ein Fünftel der jungen Generation ist auf diese Weise Jahr für Jahr ohne eine Einmündung in den Beruf geblieben.
Jetzt ändert sich die Situation aus demografischen Gründen, und zwar massiv und schnell. Sollte die Konjunktur nicht einbrechen, muss in Deutschland in den nächsten Jahren mit einem Engpass an Nachwuchskräften gerechnet werden. Es lohnt sich deshalb zu wissen, welche Nachwuchskräfte man in seinem Unternehmen unbedingt benötigt und wie man deren Qualifizierung beeinflusst. Immer mehr Unternehmen kommen auf die Idee, schon früh mit Schulen und Ausbildungsstätten zusammenzuarbeiten, um Einfluss auf das Profil der jungen Leute zu nehmen, die sie schließlich bei sich aufnehmen möchten. Weil die Jahrgänge der jungen Leute zahlenmäßig immer kleiner werden, bleibt vielen auch nichts anderes übrig, als sogar die bisher verschmähten Schulabsolventen mit schwächeren Qualifikationen mit in Betracht zu ziehen. Jugendstudien analysieren, wie diese jungen Leute nach Leistung und Sozialkompetenz aufgestellt sind.
In allen Jugendstudien fällt auf, dass die junge Generation heute auf die strukturelle Unsicherheit und die Ungewissheit, wie es nach der Jugendphase im Leben weitergeht, nicht passiv reagiert, sondern aktiv mit starken Investitionen in die Verbesserung ihrer Bildung. Sie sehen die Möglichkeit zur Bewältigung der Zukunftsunsicherheit in individueller Anstrengung und konzentrierter Lebensführung. Durch einen hohen Bildungsabschluss und wache Flexibilität der Zukunftsperspektiven wollen sie sich eine günstige Position für den beruflichen Sektor und damit für das gesamte weitere Leben sichern. Die Mehrheit von ihnen ist überzeugt, diesen Aufstieg über das Schul- und Hochschulsystem auch tatsächlich bewerkstelligen zu können, obwohl sie zugleich spüren, wie schwierig das in Zeiten der noch anhaltenden Jugendarbeitslosigkeit und der nicht überwundenen Finanzkrise ist.
Vor allem die jungen Frauen sind es, die auf die unsicherere Ausgangslage mit verstärkten Bildungsinvestitionen reagieren. Sie haben die Logik der Leistungsgesellschaft verstanden, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied ist und Versagen als ein individuell anrechenbares Verhalten angesehen wird. Entsprechend haben sie ihre Schulabschlüsse immer weiter verbessert und die jungen Männer inzwischen deutlich überholt. Nicht nur ihr Anteil an den Gymnasiasten liegt inzwischen weit vorn, sondern sie erobern nun auch die Hochschulausbildungen, darunter Fächer, die bislang fest in Männerhand waren, wie etwa Medizin und Jura. Die gesamte eigene Lebensführung um die Optimierung von Bildungsqualifikationen herum aufzubauen, ist ein Charakteristikum, das wir bei ihnen besonders deutlich beobachten können. Das ist auch für alle anderen Altersgruppen der Bevölkerung von Bedeutung.
Junge Leute haben, wie die Jugendstudien zeigen, Sehnsucht nach festen Beziehungen, aber gleichzeitig sind sie vorsichtig mit dauerhaften Bindungen. Sie stellen ihre Existenzsicherung durch die berufliche Tätigkeit eindeutig in den Vordergrund und richten ihre sozialen Partnerschaftsbeziehungen hierauf aus, ohne auf liebevolle und harmonische Beziehungen zu verzichten.
Die jungen Frauen sind besonders flexibel
Auch in diesem Bereich gehen die jungen Frauen besonders flexibel vor. Sie haben sich ganz klar für die Berufstätigkeit entschieden und eindeutig Abschied von der traditionellen Hausfrauenrolle genommen, aber sie wünschen sich definitiv eine Partnerschaft und eine eigene Familie, die mit der beruflichen Karriere verbunden sein soll. Die jungen Männer zögern in dieser Hinsicht noch und klammern sich an die traditionelle Männerrolle, die ausschließlich die berufliche Karriere und die Funktion des Haupternährers einer Familie vorsieht. Hierdurch kommt es durchaus zu Spannungen zwischen den beiden Geschlechtern. Die jungen Männer neigen dazu, sich sehr lange im Elternhaus einzuquartieren und abzuwarten, wann sie den Sprung in eine eigene Partnerschafts- und Familienbeziehung wagen können. Insgesamt aber gehen beide Geschlechter innovativ mit dieser Herausforderung um, und in dieser Hinsicht sind sie durchaus ein soziales Modell für die älteren Generationen. Kein Wunder, dass diese neugierig auf die Ergebnisse von Jugendstudien schauen.
Im Freizeit- und Konsumsektor einschließlich der Medien sind die Angehörigen der jungen Generation als „digitale Einheimische“ den älteren Generationen weit voraus. Sie verstehen es, mit schlafwandlerischer Sicherheit die Möglichkeiten von Computer und Internet zu nutzen. Sie entfalten dabei ein Lebensgefühl von Transparenz und Freiheit und geben sich mit großer Passion den verschiedenen Angeboten des Freizeitlebens und ganz unbefangen auch der Freizeitindustrie hin. Einige von ihnen, vor allem die jungen Männer, sind dabei zwar auch in Gefahr, in einem passiven Konsumverhalten zu versinken und die Herrschaft über die Mediennutzung zu verlieren. Aber bei der Mehrheit fällt auf, dass sie die Herausforderungen der Lebensgestaltung in offener und unbefangener Weise aufnehmen und dadurch zum Orientierungsmaßstab für die älteren Gesellschaftsmitglieder werden.
Auch bei der politischen und sozialen Partizipation gehen die Jugendlichen neue Wege. Den etablierten politischen Parteien und Institutionen gegenüber sind sie skeptisch und zurückhaltend. Sie suchen nach direkten politischen Einflussnahmen und unmittelbaren Teilhabemöglichkeiten. Entsprechend richten sie mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit auf Formen des sozialen Engagements in eigener Regie und bemühen sich darum, die neuen Medien intensiv mit in die politische Partizipation einzubeziehen. Der Aufstieg einer Partei wie die „Piraten“ ist symptomatisch für diese Entwicklung. Diese Partei nimmt vieles von dem Lebensgefühl der jungen Generation auf, das auf Gestaltungsfreiheit und Gerechtigkeit ausgerichtet ist und den Freiheitsbegriff über alles schätzt. Auch in dieser Hinsicht dürfen wir davon ausgehen, dass die junge Generation in ihrer Lebensführung paradigmatisch für alle weiteren Lebensabschnitte wird. Jugendstudien zeigen deshalb am zuverlässigsten neue politische Trends an.
In den Shell-Jugendstudien konnte zu Beginn der 2000er Jahre zum ersten Mal nachgewiesen werden, wie sensibel sich die junge Generation in unsicheren Zeiten auf traditionelle Werte zurück- besinnt. Jahrzehntelang standen die Wertorientierungen der Selbstverwirklichung wie Kreativität, Unabhängigkeit, Lebensgenuss und Lebensstandard an der Spitze der Wertorientierungen. Das galt aber nur so lange, wie die materielle wirtschaftliche Basis als sicher eingeschätzt wurde. In den 1990er Jahren hatte sich die Lage verändert, junge Leute waren nun von einer lang anhaltenden Arbeitslosigkeit betroffen. Entsprechend reagierten sie mit einer massiven Verschiebung ihrer Wertorientierungen. Entgegen allen Unkenrufen von der „Verdorbenheit“ der jungen Generation zogen statt der postmaterialistischen nun wieder die materialistischen Werte ein, gekennzeichnet durch Fleiß und Ehrgeiz, Macht und Einfluss sowie Sicherheit und Disziplin.
Alle Jugendstudien der jüngsten Zeit haben diese Trends bestätigt. Junge Leute mischen die materialistischen und postmaterialistischen Werte unbefangen miteinander. Sie haben keine Schwierigkeit, Selbstverwirklichung und Selbstdisziplin miteinander zu verbinden und über Fleiß und Disziplin zu materiellem Reichtum und Lebensgenuss zu kommen. Zugleich sind sie Nutzenkalkulierer, selbstbezogene und bedürfnisorientierte „Egotaktiker“, sie schauen genau auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten und arbeiten mit einem kräftigen Schuss Opportunismus. Über allem steht aber ein pragmatischer Optimismus, es irgendwie schon zu schaffen.
Jugend und Erwachsenenalter gehen zunehmend ineinander über
Die jungen Leute setzen noch in einer weiteren Hinsicht Maßstäbe: Ein gesunder Körper ist für sie, die Frauen wieder voran, heute schlichtweg Grundvoraussetzung zur Erreichung ihrer privaten und beruflichen Ziele. Man betreibt körperliche Aktivitäten mit dem Ziel, fit zu sein. Dazu gehört ein Bemühen um gesunde Ernährung und einen guten Tagesrhythmus. Auch wenn im Alltag diese Prinzipien gelegentlich („Komasaufen“) ausgehebelt werden, sind sich die jungen Leute heute genau dessen bewusst, dass sie in einer Leistungsgesellschaft leben und sich deren Regeln anpassen müssen. Entsprechend ist ihnen die Investition in ihre Gesundheit fast genauso wichtig wie die Investition in ihre Bildung und berufliche Qualifikation. Auch in diesem Bereich also sind sie damit für die gesamte Gesellschaft Trendsetter.
Wenn wir uns diese Zusammenhänge vergegenwärtigen, ist es nicht überraschend, dass Jugendstudien Konjunktur haben. Die Lebensphase Jugend ist heute im Durchschnitt etwa 15 Jahre lang und hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer weiter ausgedehnt. Das Auffällige: In vielen Facetten unterscheidet sie sich nicht mehr entscheidend vom Erwachsenenleben. Der Übergang ist fließend geworden. Das gilt für das Konsum- und Freizeitverhalten, für wirtschaftliches Tätigsein in bezahlten Teilzeitjobs, aber auch für den privaten Lebensstil mit dem Zusammenleben mit Partnerin oder Partner. Dadurch ist die Abgrenzung zwischen dem Jugendalter und dem Erwachsenenalter oft gar nicht mehr klar zu treffen. Immer mehr Erwachsene legen Wert darauf, sich so wie Jugendliche zu verhalten und damit die Offenheit des Lebens, die auch sie zunehmend erfahren, als eine Herausforderung zu begreifen, die kreativ gestaltet werden kann. Wenn sie ein „soziales Modell“ suchen, dann finden sie es bei den jungen Leuten, oft ihren eigenen Kindern. Ob Eltern wohl deshalb heute ein so großes Interesse daran haben, dass ihre jugendlich gewordenen Kinder so lange noch bei ihnen zu Hause wohnen bleiben?
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