Bundestagswahl: Nichtwähler handeln demokratisch verantwortungslos
Nichtwähler gerieren sich gerne als die wahren Demokraten, beklagen verkrustete Parteienstrukturen und die Machtlosigkeit des Souveräns. Doch in Wirklichkeit sind sie politische Wegelagerer.
An der Bundestagswahl am 22. September könnten bis zu 38 Parteien teilnehmen. Am Freitag vergangener Woche gab der Bundeswahlausschuss nicht nur den sechs Bundestagsparteien, sondern auch 32 weiteren Parteien, die sich um die Gunst der Wähler bewerben wollen, seinen Segen. Da wird doch für jeden Deutschen etwas dabei sein, möchte man meinen: die eurokritische Partei „Alternative für Deutschland“ zum Beispiel, die „Tierschutzpartei“ oder die „Partei Bibeltreuer Christen“. Selbst wenn die eine oder andere kleine Partei noch daran scheitern sollte, genügend Unterstützerunterschriften zu sammeln, ist das politische Angebot auf den Wahlzetteln größer als das Joghurt-Sortiment im Supermarkt. Trotzdem könnte die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl im Herbst auf ein Rekordniveau sinken.
Seit vier Jahrzehnten geht die die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurück. Den größten Run auf die Wahlurnen in Deutschland gab es 1972. Damals machten 91,2 Prozent der wahlberechtigten Deutschen ihre Kreuze. Bei der Bundestagswahl 2009 waren es noch 70,8 Prozent. 18 Millionen Wähler blieben zuhause. Damit gab es vor vier Jahren mehr Nichtwähler als Wähler von CDU und CSU, die kamen zusammen nur auf 14,6 Millionen Stimmen. In keinem europäischen Land außer Portugal ist die Wahlverweigerung in den letzten Jahrzehnten mehr gestiegen. Es wirkt schon paradox, dass ausgerechnet in einem wirtschaftlich starken, politisch beständigen und sozial stabilen Land wie Deutschland, die Nichtwahl so populär ist.
Fragt man Nichtwähler, warum sie nicht wählen, können sie herrlich schimpfen: über das System, das Kartell der Parteien, über die Ungerechtigkeit der Politik oder über die Ungerechtigkeit der Welt. Die Worte können dabei durchaus drastisch oder unflätig werden. Die Nichtwähler sind enttäuscht von ihrer Partei oder unzufrieden mit der Politik der Regierung. Sie fordern mehr direkte Demokratie, oder sie wiegen nachdenklich den Kopf und erklären, dass weder der eine, noch der andere Kandidat das Land regieren könne. Die Forderung nach einem starken Mann, der endlich einmal aufräume, darf auch nicht fehlen. Alte Spontis erinnern sich gerne an den Spruch: „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“. Verweist man darauf, dass jeder Einzelne eine Verantwortung für die Demokratie habe und es Bürgerpflicht sei, wählen zu gehen, reagieren sie empört oder zynisch.
Das Phänomen des Nichtwählers und sein Wesen
Zahllose Studien haben sich in den letzten Jahren mit dem Phänomen Nichtwähler beschäftigt. Zuletzt haben sowohl die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, als auch die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung Untersuchungen vorgelegt. Die Intention der großen Parteien, sich für den aktuellen Wahlkampf zu rüsten, ist unverkennbar.
Für die Experten ist es gar nicht so einfach, das Phänomen Nichtwähler zu analysieren. Die Motive sind vielfältig und manche Befragte leugnen in Umfragen auch, dass sie zu den Wahlverweigerern gehören.
Vor allem in der Unterschicht haben sich viele Menschen vom politischen System insgesamt abgewandt, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, es könne sich etwas ändern. Aber es gibt auch in der Mitte der Gesellschaft politikferne Nichtwähler, denen es ökonomisch gut geht und die deshalb keine Wünsche an die Parteien haben. Und es gibt politisch hochinteressierte Nichtwähler, die ihre dezidierten politischen Forderungen von keiner Partei repräsentiert sehen und sich nicht mit dem kleineren Übel anfreunden können.
Schließlich gibt es hartnäckige Wahlverweigerer und Gelegenheitsnichtwähler. Es gibt solche, die von der Politik insgesamt nicht mehr viel erwarten und solche, die nur akut enttäuscht sind. Der Meinungsforscher Manfred Güllner nennt sie liebevoll aber auch verharmlosend „Wähler auf Urlaub“. Selbst unter den Nicht-Wählern sind die Demokratiefeinde eine Minderheit, stattdessen klagen sie vor allem darüber, dass sich die Politik zu wenig um die Probleme der Menschen kümmere.
Das Ausschwärmen der Kümmerer und nichtwählende Wegelagerer
In den kommenden Wochen soll sich das ändern, das Wahlvolk wird sich vor den Kümmerern der Parteien kaum retten können. Vor allem viele sozialdemokratische Wahlkämpfer werden ausschwärmen und an der Wohnungstür für ihre Politik werben. Bei fünf Millionen Wählern wollen die Sozialdemokraten persönlich vorstellig werden, so lautet die Zielmarke im Willy-Brandt-Haus. Vor allem enttäuschte ehemalige SPD-Wähler und enttäuschte Wähler aus der Unterschicht will die SPD dabei ansprechen. Denn nur wenn es den Sozialdemokraten gelingt, bisherige Nichtwähler zu mobilisieren, kann sie sich in den letzten acht Wochen des Wahlkampfes noch aus dem Stimmungstief kämpfen.
Die Politiker werden sich an der Wohnungstür vermutlich einiges anhören müssen, sie werden geduldig ihre politischen Botschaften erklären und freundlich dazu auffordern, in jedem Fall zur Wahl zu gehen.
Dabei möchte man den Nichtwählern eigentlich mal richtig seine Meinung sagen.
Es mag ja sein, dass den Nichtwählern die Politik von CDU und FDP nicht gefällt, es mag sein, dass SPD, Grüne und Linke nicht ihre Interessen artikulieren, es mag sein, dass die Nichtwähler den Eindruck haben, das Land werde von Angela Merkel schlecht regiert wird und Peer Steinbrück sei keine überzeugende Kanzleralternative. Aber andere Politiker gibt es nicht, auch nicht bei den kleinen Parteien.
Letztendlich sind Nichtwähler also Wegelagerer der Demokratie. Sie lehnen sich zurück, bis ihnen die Politik passt, bis ihnen die Parteien die Politik, die ihnen gefällt, mundgerecht servieren, bis sich ein Politiker endlich ganz persönlich um sie kümmert. Sie fluchen, sie schimpfen und sie reklamieren für sich selbstverständlich alle demokratischen Rechte. Aber am Wahlsonntag nehmen sie sich nicht einmal eine halbe Stunde Zeit, um sich aktiv für die Demokratie zu engagieren und verhalten sich so demokratisch verantwortungslos. Dabei sollte es doch unter den 38 Parteien, die an der Bundestagswahl teilnehmen, eine geben, die passt. Und sei es, dass es sich um eine Protestpartei handelt. Die Wahl einer solchen ist immerhin ein demokratischer Akt, gegebenenfalls ein Weckruf für die etablierten und allemal besser, als am Wahlsonntag zu Hause zu bleiben.