Symphonie einer Weltstadt: Nicht sexy, aber reich
Ein Film-Spaziergang durch das Berlin der 30er Jahre erfüllt das Herz mit Liebe. Doch die Konfrontation mit der Wirklichkeit könnte nicht ernüchternder sein.
Sonntagmorgen in Berlin, 10 Uhr 30. Die Stunde, in der die Glocken zur Messe rufen, in der man im Bett den zweiten Espresso trinkt und die Zeitung aufschlägt, während die von Schweiß und guten Vorsätzen triefenden Jogger über die Alleen des Volksparks trotten … Um Punkt 10 Uhr 30 setzen sich die Filmspulen im Projektionsraum des Steglitzer Adria-Kinos in Bewegung. Auf dem Programm wie an jedem Sonntag seit 26 Jahren: „Berlin, wie es war“. Ein Spaziergang durch das Berlin der 30er Jahre, kurz bevor die Stadt durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs für immer zerstört wurde.
13 sind wir, verstreut in den Samtfauteuils des großen leeren Saales. Drei Paar alte Damen, die pausenlos Hustenbonbons lutschen und sich eine nostalgische Reise in das Dekor ihrer Kindheit gönnen. Zwei Neuberliner, kürzlich aus Westdeutschland hergezogen. Weil sie begreifen wollen, wie ihre neue Metropole tickt, schrecken sie als enthusiastische Forschungsreisende durch ein exotisches Land vor nichts zurück, nicht einmal vor Steglitz an einem verregneten Sonntagmorgen. Zwei Verliebte, die Berlin, wie es war oder nicht war, souverän ignorieren. Sie nutzen Dunkelheit und geringe menschliche Dichte an diesem Ort, um sich hinten im Saal 87 Minuten ununterbrochen zu küssen. „Mach Dir ein paar schöne Stunden, geh ins Adria“, hat ein Plakat über der Kasse sie ermahnt. Sie kommen der Aufforderung nach. Dann ist da noch ein einzelner Mann in der Nähe der Heizung, der gleich in den ersten Minuten einschläft, der Kinobetreiber … und ich.
13 ist die Zahl der geheimen Verschwörerzirkel in den Romanen meiner Jugend. 13 ist eine magische Zahl. In Wahrheit ist es ein kleines Wunder, dass wir überhaupt so viele sind. Der Kinobetreiber versichert mir, dass immer eine Handvoll Zuschauer zu diesem Jour fixe am Sonntagmorgen kommt. Außer gelegentlich im Sommer, wenn die Liebespaare sich auf den Wiesen des Volksparks wild abknutschen und die alten Damen sich vor ihren Blumenkästen auf dem Balkon sonnen. „Berlin, wie es war“ konkurriert heftig mit der „Mousetrap“. Ein unumstößliches Ritual, um die Zeit in den sich ständig verändernden Großstädten abzubremsen. Beides wurde 1952 uraufgeführt. Der Film in West-Berlin. Das Theaterstück im Westend von London. Wer wird zuerst aufgeben? Leo de Laforgue oder Agatha Christie?
Über die Leinwand defiliert in Schwarz-Weiß eine ganz andere Stadt als die, die ich täglich erlebe. Eine prächtige, wimmelnde Stadt. Man sieht das große barocke Treppenhaus des Schlosses, die verwirrende Fülle von dekorativen Elementen: Putten und Männerakte an der Decke, Lüster, raffiniert gearbeitete Blumenkränze, Wandteppiche, Parkettböden, das runde Arbeitszimmer von Friedrich dem Großen. Ein Rausch an Marmor und Grandezza. Das Berlin von Wilhelm war zweifellos nicht so sexy wie das von Wowi, aber unglaublich reich. „Welche Fülle von Schätzen hatte die Stadt!“, jubiliert die pathetische Stimme des Sprechers. Kutschen, Musikkapellen, Wochenmärkte, dieser „Tummelplatz der sparsam abwägenden Hausfrau“, Milchverkauf auf der Straße … Geigenklänge am Rande der Dissonanz umranken den Text. Die feinen Kratzer in dem abgenutzten Film lassen mich an die Striche des Eisregens draußen denken. Der Herr an der Heizung schnarcht vor sich hin. Die alten Damen verdrücken das 20. Hustenbonbon. Die Musik dreht auf. Fortissimo. Nein, dieses Berlin ist für immer von den Trümmerbergen begraben worden. „Gestern eine strahlende Metropole. Morgen wieder die leuchtende Hauptstadt Deutschlands in einem friedlichen Europa“, schließt der Sprecher. ENDE. Die Lichter gehen wieder an.
Von Liebe erfüllt verlasse ich das Kino und nehme mir vor, für diesen Samstag eine Ode an Berlin zu schreiben, hingerissener, überschwänglicher und vor allem aktueller als der Film. Doch die Konfrontation mit der Wirklichkeit könnte nicht ernüchternder sein. Regen. Grau in Grau. Kein Mensch auf dem Bürgersteig. Zwei unter einem Regenschirm aneinandergedrängte Passanten warten auf den Bus, der nicht kommt. „Das Berliner Verkehrsnetz war vorbildlich …“, haben wir doch gerade im Film erfahren. Wer hat Steglitz denn nur eine Überdosis Schlafmittel verordnet? Keine Spur von der pulsierenden Metropole der kurzen Nächte, die vom Morgengrauen bis in die tiefste Nacht vibriert. Nix mit Symphonie einer Weltstadt über die Schloßstraße, an diesem Sonntagmorgen mit seinem Tauwetter.
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.