Deutschland und Europa: Nicht alle sind wie wir
Wenn andere Völker Europas anders denken über die Zukunft der EU, über Datenschutz oder Energiepolitik: Vielleicht haben sie manchmal gute Gründe?
Sind die Deutschen demokratisch und tolerant gegenüber andersdenkenden Mehrheiten? Innerhalb der nationalen Grenzen klappt das leidlich. Eine Partei, die 16 Prozent der Wähler repräsentiert, stellt nicht den Regierungschef und gibt nicht die Richtlinien der Politik vor, das wird allgemein akzeptiert. Wer die Macht will, muss eine Mehrheit mit Argumenten überzeugen.
Und international? Da macht sich in deutschen Debatten mitunter ein Hang zu aufgeklärtem Absolutismus bemerkbar. Entweder gehen viele Deutsche ungeprüft davon aus, dass eine Mehrheit in Europa oder der Welt die Dinge gewiss ganz ähnlich sieht; schließlich meinen sie, die besten Argumente zu haben. Oder sie suchen nach Wegen, wie sie ihre wohlbegründete Minderheitenmeinung trotz andersdenkender Mehrheit durchsetzen können – in bester Absicht, versteht sich. Sie wollen jenen zur Einsicht verhelfen, denen sich die Weisheit der deutschen Lösung für ein Problem noch verschließt.
Vorbild wird man jedoch nicht, indem man sich zum Vorbild erklärt. Man muss es in den Augen der anderen werden. Ein Hang zu einer neuen deutschen Unduldsamkeit lässt sich bei mehreren Konfliktthemen beobachten: Besetzung der EU-Kommission, internationaler Datenschutz als Antwort auf die NSA-Affäre, Energiepolitik im Zeichen des Ukrainekriegs. Die Wortführer in den öffentlichen Debatten in Deutschland vertreten, gemessen am europäischen Meinungsbild, Minderheitenpositionen. Ein erster Schritt wäre, sich das bewusst zu machen; ein zweiter, um Mehrheiten zu werben – oder nach Kompromissen zu suchen, was freilich Abstriche an der eigenen Positionen erfordert.
Die Deutschen stellen 16 Prozent der EU-Bürger und gut ein Promille der Weltbevölkerung. Es ist ja wünschenswert, dass das Europaparlament mehr Macht bekommt, also auch mehr Einfluss darauf, wer europäische Spitzenämter besetzt. Die erstmalige Ernennung von Spitzenkandidaten sollte eine solche Dynamik auslösen. Laut Umfragen steht die Mehrheit der Deutschen in diesem Streit aufseiten des Parlaments. In den meisten anderen EU-Ländern spielten die Spitzenkandidaten Juncker und Schulz aber keine entscheidende Rolle bei der Wahlentscheidung. Viele andere Nationen wollen derzeit zudem nicht mehr „Verbrüsselung“ der Europapolitik, sondern haben wie in Frankreich und Großbritannien explizit dagegen gestimmt. Sie ziehen es vor, ihre europäischen Belange durch ihre Regierungschefs im Europäischen Rat vertreten zu lassen.
Ein Streit auf Biegen und Brechen um den Kandidaten Juncker wird der europäischen Sache mehr schaden als nutzen. Das müssen natürlich alle bedenken, auch die Briten. Der intolerante Ruf „Tretet doch aus, wenn’s euch nicht passt“ kam freilich aus Deutschland. Europas Erfolgsprinzip setzt eine Neugier auf die Sichtweisen anderer Mitgliedsnationen voraus – und die Bereitschaft, darauf einzugehen.
Nach den NSA-Enthüllungen ist die Notwendigkeit internationaler Standards beim Datenschutz dringend. Zugleich ist aber offenkundig, dass andere bedeutende Nationen in Europa wie die Franzosen und die Briten eine andere Abwägung zwischen den konkurrierenden Wünschen nach Schutz vor Terror und Datensicherheit treffen als die Deutschen. Wenn Europäer eine neue weltweite Charta zum Datenschutz wünschen, sollten sie mit einer gemeinsamen EU-Position beginnen.
Energiepolitik: Selbstredend wäre die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl am geringsten, wenn jedes Land selbst die Energie produzieren würde, die es benötigt – rohstoffarme Länder also die Umstellung auf Erneuerbare forcieren. Gewiss freut sich die Umwelt, wenn Länder wie die Ukraine und Polen auf den Energieträger Kohle verzichten. Es ist aber unrealistisch – und wird leicht als Hochmut verstanden –, ganz Europa die deutsche Energiewende als kurzfristig gangbaren Weg zu empfehlen. Der ist viel zu teuer. Zudem erfordert ein so grundlegender Strukturwandel Zeit, wenn er einigermaßen sozialverträglich erfolgen soll. Auch hier wäre mehr Neugier auf die Besonderheiten anderer europäischer Länder angebracht samt der Bereitschaft, ihnen gemäße Lösungen zu suchen. Der Atomausstieg ist nicht konsensfähig in Europa.
Je mehr Europa zusammenwächst – und die Welt sich vernetzt –, desto geringer wird der Aktionsradius nationaler Souveränität. Wenn andere Völker anders denken über Europa, Datenschutz oder Energiepolitik: Vielleicht haben sie manchmal gute Gründe?