"Judenältester": Mensch zwischen Hammer und Amboss
Claude Lanzmann wurde einst mit seinem Dokumentarfilm "Shoah" berühmt. Jetzt zeigt er ein Interview, dass er damals zurückhielt. Es ist das Porträt des letzten "Judenältesten" von Theresienstadt - einem Mann, der weder klar zur Gruppe der Täter noch der Opfer gehörte.
Damals, als Claude Lanzmann in Rom eine Woche lang Benjamin Murmelstein interviewte, war jenes uns so rasant entgleitende 20. Jahrhundert noch voll in Betrieb. Der französische Dokumentarfilmer, 1975 gerade 50 geworden, recherchierte für „Shoah“, womit er zehn Jahre später weltberühmt werden sollte – und er sprach nicht mit Leuten, für die die Geschichtsschreibung die Entlegenheitsvokabel Zeitzeugen erfunden hat, sondern unmittelbar mit Opfern und Tätern. Mit Abraham Bomba zum Beispiel, der in Treblinka Jüdinnen vor ihrem Gang ins Gas die Haare abschneiden musste und der bis zur Rente in Tel Aviv als Friseur gearbeitet hatte. Oder er filmte mit versteckter Kamera den KZ-Aufseher Franz Suchomel, der über 30 Jahre nach Kriegsende und dem Verbüßen einer Haftstrafe keinerlei Reue, sondern bloß tönerne Selbstgerechtigkeit zeigte.
Benjamin Murmelstein, der erste von Claude Lanzmanns Gesprächspartnern, gehört weder eindeutig zur Gruppe der Täter noch zu jener der Opfer – und das war ursprünglich der Grund, weshalb Lanzmann diese Begegnung aus „Shoah“ herausließ. Der 1905 in Lemberg geborene Murmelstein war Rabbi in Wien und organisierte schon vor dem Krieg im Auftrag von Adolf Eichmann die Auswanderung von Juden; von Dezember 1944 bis zur Kapitulation der Deutschen war er, als Vorsitzender des Judenrats, der letzte „Judenälteste“ im Vorzeigelager Theresienstadt. Seine beiden Vorgänger waren ermordet worden, er kam nach dem Krieg 18 Monate in Haft. Und wurde freigesprochen.
Machten sich die Judenräte in den Ghettos als Kollaborateure schuldig?
Aus heutiger Sicht ist es ein doppelter Glücksfall, dass Lanzmann das Gesprächmaterial mit dem rhetorisch gewandten, hochvitalen Murmelstein damals nicht in „Shoah“ aufgenommen hat. Denn nun gibt es den 220 Minuten langen eigenen Interview-Film, dem Lanzmann, nunmehr hoch in den 80ern, als zweite Rechercheebene die eigene Begehung der Schreckensschauplätze hinzufügte – er stellt ihn am Sonntag auf Initiative der Deutschen Kinemathek und der Berlinale selber in Berlin vor. Vor allem aber hat er mit Murmelstein einen faszinierenden, zwischen den Fronten zerrissenen Charakter zum Protagonisten, der ebenso aus seinem Leben erzählt, wie er mit Lanzmann um die Deutung seines Lebens ringt.
Machten sich die Judenräte in den Ghettos – als Kollaborateure und Organisateure des Lageralltags – in erster Linie schuldig, wie es einst der Verlauf des Eichmann-Prozesses in Jerusalem suggerierte? Oder milderten sie, indem sie mit ihren Peinigern verhandelten, die Lebensbedingungen der eingesperrten Juden, verlängerten und retteten gar deren Leben?
"Man kann mich verurteilen, aber nicht über mich urteilen"
Benjamin Murmelstein, der 1989 starb, sah sich als einen Menschen „zwischen Hammer und Amboss“. Und er sagt im Film: „Verurteilen kann man mich, aber urteilen über mich kann man nicht.“ Claude Lanzmann macht keinen Hehl daraus, dass er Murmelstein als Helden sieht, der auch „in der Hölle“ Menschlichkeit bewahrte. Murmelstein wusste, dass Theresienstadt so lange Schutz vor Deportation gewährte, wie die Nationalsozialisten das Lager zur Tarnung ihrer Menschenvernichtungsindustrie brauchten. Also versuchte er, den Show-Status-quo so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und zwang die entkräfteten Insassen zu der von den Deutschen befohlenen „Stadtverschönerung“. Da allerdings war die „Abenteuerlust“, mit der Murmelstein sich Jahre zuvor in die Grauzone begeben hatte, längst der eigenen Überlebenspanik gewichen.
Auch als Herausforderung an die Historiker ist Lanzmanns Recherche höchst erhellend. Murmelsteins präzises Gedächtnis speichert Adolf Eichmann nicht als den blassen Bürokraten des „banalen Bösen“, wie Hannah Arendt ihre Tätersicht auf den legendären Begriff brachte, sondern als Fanatiker. So hatte Eichmann bereits 1939 bei der Verwüstung einer Wiener Synagoge selber zur Eisenstange gegriffen. Für Murmelstein, den unmittelbaren Beobachter, war Eichmann unberechenbar, gewalttätig und korrupt: ein aktiver Vollstrecker, kein Verwalter. Nicht nur hier verschieben sich in „Der letzte der Ungerechten“, diesem präzisen Porträt eines gelenkten Akteurs jener Zeit, die Wahrnehmungen immer mehr ins Offene. In jene Erschütterung der Sicherheiten, in der das Denken erst beginnt.
Claude Lanzmann präsentiert „Der letzte der Ungerechten“ am Sonntag, 24. 11., um 14 Uhr im Arsenal, Filmhaus am Potsdamer Platz.
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