Meinung: Mein 2. Juni 1967
Ein Todesschuss markiert den Beginn der antiautoritären Revolte / Von Tilman P. Fichter
Während eines Polizeieinsatzes am 2. Juni 1967 tötete der Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras den Philologiestudenten der Freien Universität Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf. Nach dem (bis heute nicht wirklich aufgeklärten) Tod Ohnesorgs breitete sich in der westdeutschen Teilgesellschaft eine feindliche Atmosphäre von polizeilicher Gewalt und studentischer Gegengewalt aus. Unmittelbare Folge dieses Todesschusses war, dass vom Dahlemer Campus der Funke der antiautoritären Revolte auf fast alle westdeutschen Universitäten übersprang.
Eigentlich hatten die Studenten vor der Deutschen Oper in der Bismarckstraße gegen den Schah von Persien, Mohammed Reza Pahlewi, sowie die Verhältnisse unter seiner Herrschaft demonstrieren wollen. Doch nach dem nicht erklärten Notstand in West-Berlin gingen Studenten in fast allen westdeutschen Universitätsstädten massenhaft auf die Straße. Ohnesorgs Tod markierte einen Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik.
Die Polizei, der Senat von Berlin, das Abgeordnetenhaus, die von Axel Cäsar Springer weitgehend beherrschte Boulevardpresse – allen voran „Bild“, „BZ“ und „Morgenpost“ – kriminalisierten gemeinsam die Studenten von Berlin. Die Polizei, vom Präsidenten bis zum einfachen Wachmann, verschwieg hartnäckig die Wahrheit, bis ein studentischer Untersuchungsausschuss und wenig später auch ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss durch unwiderlegbare Indizien, Beweise und Augenzeugenberichte den Ablauf des Polizeiangriffes auf die friedlichen Demonstranten rekonstruierte.
Am 19. September 1967 trat Innensenator Wolfgang Büsch (SPD) von seinem Amt zurück. Drei Tage später bat Polizeipräsident Erich Duensing um seine vorzeitige Pensionierung. Und am 26. September erklärte der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) seinen Rücktritt.
Am 21. November 1967 sprach die 14. Große Strafkammer des Landgerichts Moabit den Beamten der Politischen Polizei, Karl-Heinz Kurras, frei, da es „keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Tötung (…) durch einen gezielten Schuss“ gebe. Es spricht vieles dafür, dass die Berliner Justiz in einem politischen Verfahren einen Todesschützen freigesprochen hat. Der Kopfschuss wurde von Anfang an von der Staatsanwaltschaft als „Fahrlässigkeit“ behandelt. Die Generalbundesanwältin sollte daher in diesem Fall erneut ermitteln. Ein Anfangsverdacht gegen Kurras wegen Totschlags müsste anhand der Akten sowie in einer Vernehmung des ehemaligen Polizisten und seiner früheren Vorgesetzten geprüft werden.
Der Todesschuss war wohl keine Entgleisung eines verängstigten Psychopathen, sondern entstammte dem kalkulierten Risiko, das die politische Führung damals eingegangen war. Oberkommissar Kaiser von der Politischen Polizei berichtete seinerzeit vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, dass seine Beamten in einer „Spezialausbildung“ gelernt hatten, in Auseinandersetzungen mit „Ost-Agenten und Rädelsführern innerer Unruhen“ zur Pistole zu greifen.
Kurras und sein Einsatzführer hielten Benno Ohnesorg, der übrigens das erste Mal in seinem Leben an einer Demonstration teilgenommen hatte, offensichtlich für den Kopf einer Gruppe von außen gesteuerter Unruhestifter. Das Ziel der Politischen Polizei, den „Störern“ den vermeintlichen Anführer zu nehmen, war Kurras das Risiko des gezielten Schusses wert. In den Planspielen der Sicherheitsbehörden war es ja fast immer um „kommunistische Störaktionen“ oder um einen „eingeschleusten Bürgerkrieg“ gegangen.
Während der Totenfeier mit Pfarrer Helmut Gollwitzer und des anschließenden Trauerkonduktes für unseren erschossenen Kommilitonen hörten wir über Transistorradios, wie der SDS im Berliner Abgeordnetenhauses unter Beifall mit den Nazis gleichgesetzt wurde. Die Springer-Presse hatte bereits in den ersten Kommentaren die Polizei frei- und die Studenten schuldig gesprochen. Heute wissen wir, dass der Zusammenprall zwischen den sich politisierenden Studenten und den West- Berliner Polizeisoldaten am 2. Juni 1967 einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Aufbaugeneration der früheren Wehrmachtssoldaten und der Generation der Kriegskinder markierte. Damals begann ein Kampf zwischen zwei Generationen.
Am 3. Juni, zwei Tage vor Beginn des „Sechs-Tage-Kriegs“, versammelten sich rund 4000 trauernde Studenten vor der WiSo-Fakultät der FU und forderten den Rücktritt des Berliner Senats. Günter Grass, der zu diesem Zeitpunkt offensichtlich aus völlig anderen Diskussionszusammenhängen kam und die Brisanz unseres Protestes deshalb wohl auch nicht erfasste, stellte überraschend den Antrag auf eine Resolution für das „tödlich bedrohte Israel“. Das wurde von uns – noch unter dem Schock des Todes von Ohnesorg – ohne jede Debatte verworfen. Auch mit einem weiteren Antrag, in dem sich Grass als Moderator einer Veranstaltung zwischen „jungen“ Polizisten und Studenten anbot, stieß er bei uns auf ungläubiges Schweigen.
Am Vorabend der studentischen Revolte war die Bundesrepublik eine Gesellschaft des kollektiven Nichthinterfragens. Die jüngste Geschichte schien hoffnungslos verriegelt. Die übergroße Mehrheit der noch einmal Davongekommenen wollte ganz einfach keine Debatte über das Scheitern der Weimarer Demokratie oder über die Ursachen und die Verantwortung der Deutschen (und Österreicher) für den industriellen Mord an den Juden Europas. Erst die Generation der Kriegskinder war bereit, sich nach der Phase des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) massenhaft und wirkungsvoll mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
Trotz sozialer Verwerfungen und wachsender Legitimationsprobleme der politischen Klasse ist das neu vereinigte Deutschland mittlerweile eine stabile Demokratie. Auf dem Weg dorthin spielte unsere antiautoritäre Revolte eine wichtige, aber auch ambivalente Rolle: Trotz fehlender deutscher Demokratietraditionen haben wir 1967/68 in der westdeutschen Teilgesellschaft für mehr Freiheit und soziale Gleichheit gestritten. Andererseits haben wir in der Hitze der Auseinandersetzungen oft auch gegen die Regeln in der Demokratie verstoßen. Unser Bewusstsein wurde nach dem 2. Juni wesentlich geprägt durch den Ekel vor den Resten der alten Eliten, die über Auschwitz und dann auch zu Vietnam schwiegen. Aber Ekel schafft noch keine revolutionäre Situation.
Postskriptum: Der Platz Ecke Krumme Straße/Bismarckstraße in Charlottenburg ist noch immer namenlos, obwohl die Bezirksverordnetenversammlung von Charlottenburg-Wilmersdorf die Verwaltung der Deutschen Oper bereits zweimal mit deutlicher Mehrheit aufgefordert hat, einer Benennung in „Benno-Ohnesorg-Platz“ zuzustimmen. Der CDU-Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler hat dies in Abstimmung mit dem Stiftungsrat der Oper bzw. der Kulturverwaltung im Roten Rathaus bislang verhindert. Es stünde dem Kultursenator Klaus Wowereit in seiner Eigenschaft als Mitglied des Stiftungsrates gut zu Gesicht, wenn er einer Benennung des Platzes am nordöstlichen U-Bahn-Eingang „Deutsche Oper“ in „Benno-Ohnesorg-Platz“ zustimmen würde.
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