Gastkommentar: Mehr Europa kann mehr!
Mitten in der Krise überkommt die Politik plötzlich Zweifel am eingeschlagenen Weg. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, einen Rückzieher zu machen.
Die Grundentscheidung für jeden einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages wird deutlicher und klarer. Welchen Weg will er für Europa beschreiten? Den Weg aus gemeinsamer Zukunftsverantwortung heraus, das heißt mit der Endkonsequenz der Flucht in nationale Alleingänge, oder entscheidet er sich für mehr Europa, das heißt für auch ein Europa der inneren Solidarität mit allen Mitgliedstaaten, das sich fit macht für seinen Platz in einer neuen Weltordnung?
Der Bundeswirtschaftsminister hat recht, wenn er einen Wertekonsens verlangt, der die Ordnungspolitik ebenso umfasst wie die Finanzpolitik.
Die Wirtschafts- und Währungsunion verlangt besonders unter den veränderten globalen Bedingungen einer interdependenten Weltordnung eine immer stärker aufeinander abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Nur die Verständigung auf diesem Weg kann verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Ob man es Wirtschaftsregierung nennt oder nicht, ist zweitrangig. Eine europäische Autorität aber muss es sein. Für die Ahndung von Verstößen sind automatische Sanktionen erforderlich. Die Überprüfbarkeit der nationalen Zahlenwerke muss sichergestellt sein. Mit dem Europäischen Gerichtshof hat sich die Europäische Union die Garantie der Rechtseinheit geschaffen. Ähnliches wird für den Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion gebraucht.
Wenn Europa in der neuen Weltordnung seine Rolle als globaler Mitgestalter wahrnehmen will, muss es auf der Grundlage eigener Solidität handlungs- und gestaltungsfähig sein, damit feste und verbindliche Rahmenbedingungen auch für die globalen Finanzmärkte geschaffen werden können. Hier sind europäische Initiativen gefordert, und zwar jetzt und nicht irgendwann!
Welche Initiativen das sein können, lesen Sie auf der nächsten Seite.
Die neue multipolare Weltordnung braucht Europa als globalen Mitgestalter, nicht zuletzt, weil es den Weg aus nationaler, um nicht zu sagen nationalistischer Verengung zu einer partnerschaftlichen regionalen Kooperation gefunden hat. Nordamerikaner und Europäer sollten erkennen, dass sie, die Verwandten auf beiden Seiten des Atlantiks, hierin eine neue Gemeinsamkeit entdecken müssen, nicht um den Rest der Welt zu dominieren, sondern um als Ausdruck neuen Denkens in der gleichberechtigten und ebenbürtigen Kooperation das Zukunftsmodell zu vertreten.
Für Deutschland ergeben sich aus dieser Einsicht eine Reihe von Notwendigkeiten. 1. Auch unser Land braucht eine neue Stabilitätskultur. Die Bundesregierung ist mit ihrer Haushaltspolitik bemüht, die Weichen in eine neue Richtung zu stellen.
2. Die neue Stabilitätskultur muss überall in der Europäischen Union durchgesetzt werden. Deshalb werden, um ein Beispiel zu nennen, die Schuldenbremsen überall gebraucht. Spanien hat ein Beispiel dafür gegeben, dass das möglich ist.
3. Die Fortentwicklung der Europäischen Union im Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik verlangt die Bereitschaft zur Übertragung zusätzlicher Zuständigkeiten auf die Union. Dass damit auch ein Zuständigkeitszuwachs des Europäischen Parlaments stattfinden muss, versteht sich aus dem Demokratieprinzip der Europäischen Union heraus. Man wird bei der Debatte über eine Ausweitung der Rechte des EU-Parlaments sehr bald feststellen können, dass mancher, der sich über mangelnde parlamentarische Kontrolle beklagt, eigentlich die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Europäische Union meint. Die Tatsache, dass für die Durchsetzung des Gesamtkonzepts der Stabilitätsunion Europa Vertragsergänzungen erforderlich sind, darf angesichts ihrer Notwendigkeit kein Hindernis sein. Durch abgestimmtes Verhalten ist viel mehr möglich, als manche zugeben wollen.
Ein Blick zurück auf die Nachkriegsgeschichte in Europa zeigt, dass aus Rückschlägen und vermeintlicher Ausweglosigkeit Kreativität und Kraft erwuchsen für einen Aufbruch mit neuen Perspektiven. Jetzt ist wieder eine solche Lage gegeben. Sie darf nicht zur Stunde der Kleinmütigen oder gar der Rückwärtsgewandten werden. Europa kann mehr!
Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister.