Habermas: Leuchtfeuer am Zeitstrom
Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker? Niemand wird so kühn sein, den ehrwürdigen Titel für die Deutschen von heute zu reklamieren. Aber wenn der Philosoph Jürgen Habermas achtzig Jahre alt wird – am nächsten Donnerstag ist es so weit –, dann wird dieser materialistischen Republik seltsam feierlich zumute.
Inwieweit dabei wirklich seine gewaltigen Theoriegebäude und scharfsinnigen Interventionen im Spiel sind, denen die Kenner weltweiten Rang zuschreiben – die „Weltmacht Habermas“ proklamierte in der zu Ende gehenden Woche schon die Hamburger „Zeit“ – mag dahingestellt bleiben. Denn das ist es vermutlich nicht, was ihn aufs Podest stemmt. Es ist das Bedürfnis nach Deutung und Orientierung, das eine zunehmend unübersichtlich werdende Welt hervorbringt.
Der öffentliche Intellektuelle Habermas hat durch die Geschichte der Bundesrepublik eine tiefe Spur gezogen. In der Phalanx der Köpfe, die ihre geistige Physiognomie geprägt haben, gehört er in die erste Reihe. Auch er ist einer von jenen „45ern“, den Dahrendorfs, Wehlers und Harpprechts - und den Fests und Siedlers auf der konservativen Seite -, die mit Biografie und geistiger Existenz den großen Bogen zwischen der Stunde null und der Gegenwart schlagen. Die „vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens“ als Leistung der Nachkriegszeit, der „Verfassungspatriotismus“ als Bezugsgröße der Republik, die „neue Unübersichtlichkeit“ als Symptom der Zeit: alles Leuchtfeuer am Zeitstrom, die er errichtet hat. Keine Wendung, keine Kehre der Republik, zu der er nicht sein Wort gesagt hätte, allemal mit einer beeindruckenden Fähigkeit zum plastischen Ausdruck, oft mit einer Schlagwort-Anmutung, die im intellektuellen Diskurs sonst kaum vorkommt.
Allerdings war es auch Habermas, der, zum Beispiel, 1990 das Verdikt eines drohenden „DM-Nationalismus“ in die Welt setzte – sozusagen das intellektuelle Pendant zu der Banane, mit der sich ein Bonner Politiker angesichts der deutschen Vereinigung blamierte. Soll man ihm zugutehalten, dass wer groß denkt auch groß irrt? Die Wahrheit ist wohl, dass Habermas ingeniös formulierte Zeitdiagnosen oft auch die selbstquälerischen Schwierigkeiten demonstrierten, die die intellektuelle Klasse linker Prägung mit der real existierenden Bundesrepublik hat.
Überhaupt hat Habermas die Bundesrepublik als Publizist und Essayist unermüdlich gegen den Strich gebürstet. Umso erstaunlicher mutet der unüberhörbare Denn-er-ist-unser-Unterton an, mit dem so gut wie alle Kreise der Republik dem Philosophen begegnen, nachdem er mit Kardinal Ratzinger in der Münchner Katholischen Akademie disputiert und 2001 in seiner Friedenpreisrede der Religion seine achtungsvolle Aufwartung machte. Hat des linken Deutschlands liebster Denker, der Verfechter eines marxistisch inspirierten Diskurses, der doch einst der Gott-sei-bei-uns der öffentlichen Debatten war und als „Alleszermalmer“ der traditionellen Werte galt, seinen Frieden mit der Bundesrepublik gemacht? Oder ist der Wandel ein Symptom dafür, dass die Bundesrepublik zu sich selbst findet?
Könnte ja sein, dass die geistigen Anstrengungen, die der Geburtstag veranlassen wird, auch darüber Auskunft geben.
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