Einwanderung und Integration: Leitkultur? Nein danke!
In der Einwanderungs- und Integrationspolitik stehen sich Humanisten und Materialisten gegenüber. Humanisten sehen die Gesellschaft in der Pflicht, Materialisten die Immigranten. Kann es eine Versöhnung geben?
Im Integrationsdiskurs wiederholt sich der alte sozialpolitische Streit über das „Fördern oder Fordern“. In der Sozialpolitik bedurfte es zwei Jahrzehnte intensiver Diskussionen, bis der Wechsel zum „Fördern und Fordern“ einsetzte. Mit den „Hartz-Gesetzen“ ist es zum Leitmotiv einer neuen Sozialpolitik erhoben worden, in der Flexibilität und Sekurität, Hilfe und Selbsthilfe, Teilhabe und Teilnahme in ein Ergänzungsverhältnis gesetzt wurden.
In der Einwanderungs- und Integrationspolitik sind wir noch nicht so weit. Hier stehen die humanistischen und materialistischen Geistesstränge Europas nur nebeneinander. Während die humanistische Linke vor allem Staat und Aufnahmegesellschaft in der Pflicht sieht, Zuwanderer zu fördern, zu integrieren und zu beteiligen, achten neoliberale Materialisten auf deren ökonomische Leistungsfähigkeit und setzen die Bereitschaft zu Selbsthilfe und Eigenverantwortung voraus.
Humanisten führen ausbleibende Integrationserfolge auf zu geringe Anstrengungen des Aufnahmelandes zurück. Sie stellen vor allem Forderungen an die Aufnahmegesellschaft: mehr Partizipationsmöglichkeiten, mehr Erleichterungen durch doppelte Staatsbürgerschaften, eine Willkommenskultur und größere Rechte für religiöse Verbände. Die Schuld an mangelnden Integrationserfolgen wird „bei uns“ gesucht. Im Geist des Universalismus werden Maximalforderungen wie nach dem „Recht auf Zugehörigkeit“ erhoben.
Für Materialisten, als Neoliberale primär an freien Arbeitsmärkten interessiert, sind Immigranten vor allem Arbeitskräfte. Die interkulturellen Probleme der Integration sind demgegenüber zweitrangig. Sie optieren für eine Erhöhung der Einwanderung und überlassen etwaige soziale Kosten der Allgemeinheit.
Die in Deutschland lebenden Ausländer sind im Durchschnitt deutlich häufiger arbeitslos als Arbeitskräfte mit deutschem Pass. Nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit lag die Arbeitslosenquote für Ausländer 2014 bei 14,9 Prozent, die entsprechende Quote für Deutsche dagegen bei 6,1 Prozent. Dies spiegelt sich auch im Sozialsysteme: Ende 2013 bezogen 15,9 Prozent der hier lebenden Ausländer Hartz-IV-Leistungen, aber nur 7,4 Prozent der Deutschen.
Die Anwerbung beruflich qualifizierter Einwanderer ist zum Leitmotiv einer neuen materialistischen Einwanderungspolitik geworden, während die Integrationspolitik den „Gutmenschen“ überlassen bleibt. Jenseits materialistischer Einwanderungs- und humanistischer Integrationspolitik mangelt es aber an einer realistischen, beide Anliegen in ein Ergänzungsverhältnis setzenden Gegenseitigkeit. Eine offene und differenzierte Debatte wird unterdrückt. Doch ohne rationalen Diskurs dringen auf beiden Seiten Irrationalitäten vor. Das Gutmenschentum einerseits und bloße angstbewehrte Abgrenzung andererseits sind in Konzeptionslosigkeit vereint.
Die OECD veröffentlichte im Mai 2014 eine Studie, wonach Deutschland das zweitbeliebteste Zuwanderungsziel auf der Welt geworden ist. Nur die USA sind noch beliebter. Demnach kamen im Jahr 2012 rund 400 000 Zuwanderer nach Deutschland, fast doppelt so viele wie fünf Jahre zuvor. Diese neue Beliebtheit ist der Personenfreizügigkeit der Europäischen Union zu verdanken, aber auch der hohen Arbeitslosigkeit in Südeuropa im Zuge der Euro-Krise.
Jeder Dritte dieser Zuwanderer kommt aus einem EU-Land. Sie verfügen meist über gute Qualifikationen und sind daher leichter in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu integrieren. Die Erwerbstätigenquote der Zuwanderer hat sich 2012 auf 69 Prozent erhöht (2009 waren es nur 60 Prozent) und liegt damit nur noch gering unter der der Gesamtbevölkerung (74 Prozent). Die Erwerbstätigenquote außereuropäischer Zuwanderer liegt demgegenüber nur bei 40 Prozent. Von den 6,7 Milliarden Euro, die als Arbeitslosengeld II und Sozialgeld 2013 an Menschen mit ausländischen Pass flossen, entfielen 5 Milliarden auf die Bürger aus Nicht-EU-Staaten.
Die Gefahren einer Sozialunion entstehen trotz gegenteiliger Gesetzgebung, wonach Sozialpolitik nationale Angelegenheit zu bleiben hat. Das von Richtern auch arbeitslosen Zuwanderern zugesprochene Recht auf Sozialleistungen könnte eine gewaltige Magnetwirkung in den deutschen Sozialraum zur Folge haben. Dass beim Kindergeld die in der Heimat zurückgebliebenen Kinder nur „glaubhaft“ gemacht werden müssen, ist naiv. Allerdings wären solche Fehlentwicklungen leicht zu korrigieren. Ein Zwischenbericht der Staatssekretärsrunde, die auf Abhilfe sinnen soll, sieht befristete Einreisesperren und strengere Bedingungen für den Kindergeldbezug vor.
Integration stellt hohe Anforderungen an die Individuen. Sie müssen gewissermaßen schon im Kindergarten auf diese vorbereitet werden. Mit dem vier Jahrzehnte verspätet eingeführten Vorschulsprachunterricht können Defizite aber nur angegangen werden, sofern die Eltern von diesen Angeboten auch Gebrauch machen. Der Bringschuld steht eine Holschuld gegenüber. Der Niedergang der Hauptschule ist nicht zuletzt durch die Dominanz bildungsferner Zuwandererkinder eingetreten, die oft das Niveau der Hauptschule durch schlechte Sprachkenntnisse nach unten gezogen haben. Es wäre das Minimum an Gegenseitigkeit gewesen, ausreichende Sprachkenntnisse vor dem Schuleintritt zu fordern und eine verantwortungslose Verweigerung durch Kürzungen des Kindergelds zu sanktionieren.
Zur Förderung gehört die Anerkennung bereits erbrachter Leistungen. Rund sechs Millionen Zuwanderer in Deutschland haben einen beruflichen Abschluss aus ihrem Herkunftsland, der in Deutschland häufig nicht anerkannt wird. Zehntausende von osteuropäischen Akademikern sind unter Niveau beschäftigt, immerhin haben Erleichterungen im Anerkennungsverfahren eingesetzt. Die Fixierung auf akademische Ausbildung verringert die Integrationschancen der kognitiv weniger Begabten. Die schulischen Angleichungsversuche nach oben verringern die Chancen der handwerklich Begabten, den zu ihnen passenden Platz zu finden. Mit der Verwechselung von Ungleichheit mit Ungleichwertigkeit wird ein moralischer Druck zur Ausdehnung von akademischer Bildung aufgebaut, der bereits zur Inflationierung der kognitiven Bildung beigetragen hat. Ein ausdifferenziertes Schulsystem vermittelt dagegen handwerklich Begabten bessere Integrationschancen.
Die Nachhaltigkeit eines Sozialstaates ergibt sich nicht aus der Höhe der Sozialausgaben, die bei falschen Steuerungsanreizen niemals hoch genug sind. Die 750 Millionen Euro, die die Bundesregierung jährlich für ihren Integrationsplan mobilisiert, sind ohne ausreichende inhaltliche Steuerung und ohne Einforderung von Selbsthilfe nur eine Subvention von sozialen Milieus.
Heinz Buschkowsky gehört zu den wenigen Politikern, die das Schweigekartell durchbrechen und Missbräuche des Sozialstaates thematisieren. Er beklagt vor allem das Fehlen konsequenter Sanktionen. Viele Ursachen für schlechte Integrationsergebnisse seien in den Fehlsteuerungen des Sozialstaates zu suchen, deren gemeinsamer Nenner ein Mangel an Gegenseitigkeit ist. Europas Sozialstaaten würden den Integrationsdruck verringern, da es Zuwanderern möglich ist, ohne Arbeit zu leben, oft besser, als mit Arbeit in den Herkunftsländern. Gesetze allein helfen nicht, solange Fehlverhalten nicht konsequent sanktioniert wird. Buschkowsky fordert daher einen Übergang von der Projekte-Politik zur Regel-Politik. Für viele Eltern in Neukölln sei Schulpflicht ein Wort ohne Bedeutung. Seine Konsequenz lautet: „Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto.“
Die etwas hämische Frage, in welche deutsche Leitkultur sich der Einwanderer denn integrieren solle – in die der sich entblößenden Besucher einer Loveparade oder in die der frommen Teilnehmer einer Fronleichnamsprozession –, lässt sich leicht beantworten: in die Strukturen, die ihm die Wahl zwischen diesen unterschiedlichen Aktivitäten lassen, an einer oder beiden oder keiner von beiden teilzunehmen. Es ist nahezu unmöglich, eine kollektive Identität in eine andere kollektive Identität zu integrieren, etwa als Muslim sich zum Christentum zu bekehren. Dies wäre keine Integration, sondern Auflösung der alten Identität. Umso wichtiger ist es, Individuen in die Funktionssysteme zu integrieren, in denen kollektive Identitäten keine Rolle spielen.
Eine Voraussetzung für individuelle Integration jenseits von kulturellen Identitäten ist jedoch die universelle Gültigkeit des Rechts in einem Gemeinwesen. Der freiheitliche Staat kann von Zuwanderern kein Wertebekenntnis verlangen, sondern lediglich die Befolgung seiner Gesetze. Die in der Verfassung normierten Strukturen und nicht die ihnen zugrunde liegenden Werte müssen anerkannt, es muss nur den Gesetzen gehorcht, nicht aber ihre Inhalte gut geheißen werden. Die Schulpflicht gilt, auch wenn Unterrichtsinhalte inakzeptabel erscheinen.
Dass ein Spagat zwischen kultureller Koexistenz und politischer Integration möglich ist, beweisen seit langem konservative Katholiken. Sie kritisieren oft vehement gesellschaftliche Leitkulturen und stehen dennoch loyal zu einer Staatsordnung, die die kritisierte Inanspruchnahme von Freiheiten erlaubt. Die Versuche, eine Leitkultur zum Maßstab von Integration zu machen, verwischen den Unterschied zwischen Kultur und Politik, zwischen einer spezifischen Werteordnung und der schützenden Struktur für die Werteordnung. Solche Grenzüberschreitungen nehmen derzeit in Europa durch eine Verabsolutierung säkularer Werte zu: beim Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung, dem Burka-Verbot in Frankreich, der Minarett-Volksabstimmung in der Schweiz und den Versuchen in den Niederlanden, Schächten für illegal zu erklären.
Die Annäherung an säkulare Formen des Islams soll durch einen Islamkundeunterricht an deutschen Schulen vorbereitet werden. Damit nicht innerreligiöse Konflikte, die derzeit die islamische Welt zu zerreißen drohen, in die Schulen getragen werden, ist es unabdingbar, dass der islamische Religionsunterricht als wissenschaftliche Islamkunde betrieben wird. Das Beamtenrecht sichert die staatsbürgerliche Loyalität der Religionslehrer. Es verschafft ihnen Freiräume und sichert die Unabhängigkeit, mit der sie in ihren Religionsgemeinschaften unbequeme Ansichten vertreten können. Daraus resultiert eine im Christentum erprobte produktive Spannung zwischen Theologie und Kirche. Die aus den Hochschulen und Schulen durchsickernden Aufklärungsprozesse könnten auf manche Muslime so ernüchternd und anregend wirken wie die historische Bibel- und Religionskritik auf viele Christen und Juden.
Hinsichtlich der Einforderung politischer Loyalität können wir von den USA lernen. Gerade ihre ethnische und religiöse Vielfalt erfordert ein klares Bekenntnis zur politischen Leitstruktur. Der religiösen Toleranz steht eine zivilreligiöse Orientierung an der säkularen Verfassung gegenüber. Amerikaner haben in diesem Sinne eine „doppelte Identität“ (Michael Walzer), einerseits als Bürger Amerikas, andererseits als Einwanderer. Ihr Anderssein können sie ausleben, weil sie Amerikaner sind. Eine kulturelle Integration wird nicht angestrebt. Umso wichtiger ist die politische Verpflichtung auf die Verfassung und ihre Zusatzartikel in der „Bill of Rights“.
Mit dem Stolz auf unsere religiöse Toleranz übersehen wir die Einheit von Religion und Politik als Wesensmerkmal von jeglicher Form des Islamismus. Kein Islamist würde dies bestreiten. Diese behauptete Einheit von Religion und Politik ist mit der säkularen Ordnung des Westens inkompatibel. Umgekehrt ist die vorherrschende Profanität in Europa für strenggläubige Muslime inakzeptabel. Die größte geistige Aufgabe der Kulturen liegt darin, diese Inkompatibilitäten in neue Formen der Gegenseitigkeit zwischen Religion und Politik zu überführen, um damit zwar nicht zur Integration, aber zur Koexistenz der Kulturen beizutragen. Wo diese gegenseitige Toleranz nicht möglich ist, muss über Formen der Abgrenzung und Ausweisung nachgedacht werden.
Heinz Theisen
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