Kontrapunkt: Lasst Euch das Tempelhofer Feld nicht nehmen!
Ein Kletterfelsen also, ein bisschen Wasser und viel Natur. Der Siegerentwurf für die Zukunft des Tempelhofer Feldes ist für die Fans des Ist-Zustandes beruhigend, doch gerade das wirft Fragen auf: Wofür das alles?
Als ich im vergangenen Sommer neu in Berlin war, sagte ich genau einmal laut: „Wow!“ Ich sagte es nicht, als ich zum ersten Mal mit dem Fahrrad durch Mitte fuhr, ich sagte es nicht auf dem Reichstag und nicht im Berghain. Ich sagte es nicht, als mich mehr oder minder alt eingesessene Freunde zu Orten führten, die sie für bemerkenswert hielten – meistenteils Clubs und/oder Museen/Ausstellungsräume. Ich sagte „Wow!“, als ich auf einem einsamen Spaziergang von der eigenen Haustür aus mehr oder minder zufällig auf das Tempelhofer Feld stolperte. Dann sagte ich noch leise „Das ist ja fast wie auf Borkum“, aber das tut hier nichts zur Sache.
Seitdem bin ich ziemlich genau wöchentlich wiedergekommen: Ich habe mich von Herbststürmen über das Rollfeld treiben lassen, im Himmel über mir einen Rhythmus aus Hell und Dunkel, wie ich ihn sonst nirgendwo in der Stadt gesehen habe. Ich habe im Winter vom Osteingang den Skiwahnsinn beobachtet und bei den ersten Sonnenstrahlen an der Grillhütte im nördlichen Bereich des Feldes nach einer Spezi angestanden. Ich habe Nackte zwischen Hügeln gesehen, Jugendliche bei Sprengstoffexperimenten und spektakuläre Modellflugeinlagen. Vor allem aber: immer wieder fröhliche Menschen mit viel Freiraum – das in Berlin gerne überstrapazierte Wort von der „sozialen Plastik“, für diesen großen Ort zwischen den Kiezen, Stadtteilen und Milieus lasse ich es ausnahmsweise gelten. In der Zeitung las ich derweil immer wieder von den Plänen für die Zukunft des Feldes – und immer wieder fragte ich mich: Warum?
Warum Pläne? Warum hier was verändern? Warum Geld, Kraft und Ideen in einen Ort stecken, der genau als das funktioniert, was er zurzeit ist: eine herrlich unterdefinierte Spielwiese für alle, die auf und mit ihr etwas unternehmen wollen. Ein Freiraum eben, ein Freiraum im besten Sinn: frei von Plänen, frei von architektonischer Ambition und frei von der Aufmerksamkeitslenkung durch irgendwelche eventigen (und im schlimmsten Fall kostenpflichtigen) Zusatzangebote. Warum sollte man an einem Ort etwas verändern, der auch im Jahr 2020 oder 2030 nichts von diesem Zauber eingebüßt haben wird? Warum sollten die Kinder dann keine große Spielwiese zu schätzen wissen? Warum die Kitesurfer keine schier grenzenlose Betonpiste? Warum Spaziergänger und Radfahrer nicht das Feld genau in seinen heutigen Dimensionen? Dass der Raum, so karg er ist, irgendwann langweilen könnte, unterschätzt maßlos die Fantasie derer, die ihn in ihrem Sinn benutzen. Und selbst wenn irgendwann mal keine neuen Ideen der Flugfeld-Nutzer dazu kämen: Was spräche gegen ein Kitesurfer-Spaziergänger-Radfahrer-Langläufer-Paradies in alle Ewigkeit? Das habe ich bis heute nicht verstanden.
Wenn ich überhaupt etwas gelten ließe, dann wäre es eine Randbebauung aufgrund wachsender Wohnungsnot, wobei: Wäre nicht auch das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, ist nicht auch hier das strukturelle Problem ein anderes, das sich auch über die Schrumpfung des Flugfeldes kaum lösen ließe? Und wenn ich daneben noch etwas "so gerade eben" akzeptiere, dann ist es der momentan in der Diskussion stehende Siegerentwurf zur Zukunft des Feldes – weil er vieles belässt, wie es ist, manches verbessert (etwa durch die vergrößerte Zahl an Zugangspunkten) und weil seine Macher verstanden zu haben scheinen, dass es genau diese Freiheit der Nutzung ist, die das Feld seit seiner Öffnung im Mai 2010 schon zu sehr geprägt haben, als dass man darin einfach eine Episode sehen dürfte, der Weg zu einem „normalen Park“ noch offen wäre. Doch genau hier stellt sich eben wieder die Frage: Warum dann überhaupt lenkend eingreifen? Warum das Feld, schön und groß, wie es ist, dauerhaft und über die Gartenschau hinaus verändern wollen?
Vielleicht bin ich naiv, vielleicht bin ich aber auch in einer Generation groß geworden, deren Ideenvorrat für Zukunftsvisionen über die Ausschreibung eines Expertenwettbewerbs hinausgeht. Im Flugfeld in seiner heutigen Bespielung erkenne ich im besten Sinne ein Open-Source-Projekt, eine offene Software, die von einigen aktiv mitgestaltet, von anderen nur genutzt, aber als „ihr Eigenes“ anerkannt und dadurch nicht zerstört wird. Warum nicht diese Tendenz verstärken? Warum nicht – statt des nun geplanten Felsens – Flächen auszeichnen, in denen Bürger eigene Projekte verwirklichen können, die sie dann anderen kostenfrei zur Verfügung stellen? Früher oder später wird dort irgendwer eine – selbstverständlich genehmigungs- und abnahmepflichtige – Kletterwand aus der Taufe heben, und die wird viel charmanter, akzeptierter und volkstümlicher sein, als es der Architektenfelsen je sein könnte.
In diesem Sinn rufe ich die Bürger dieser Stadt: Lasst Euch das Tempelhofer Feld nicht nehmen! Wehrt Euch gegen die, die Euch nicht zutrauen, Eure Freizeit und Euer Lebensumfeld alleine zu gestalten! Zeigt, dass Ihr das könnt – das Flugfeld ist der ideale Raum, um in dieser Stadt der verschiedenen Menschen und verschiedenen Interessen Bürgergeist zu zeigen: weil das Feld Euch den Platz bietet, zusammen etwas auf die Beine zu stellen! Macht Stimmung gegen "T21", bevor es zu spät ist! Weil das Flugfeld, genau, wie es jetzt ist, groß genug ist für eine Stadt wie Berlin.