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Meinung: Krebs als Nebenwirkung

Durch Gentherapie geheilt – nun sind die Patienten schwer krank / Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Vor drei Jahren jubelten die Forscher am Pariser Hôpital Necker noch: Sie hatten zum ersten Mal mit Hilfe der Gentherapie ein Kind von einer angeborenen Immunschwäche geheilt. Nach einem Jahrzehnt der Misserfolge und dem tragischen Todesfall des 18jährigen Gentherapiepatienten Jesse Gelsinger im Jahr 1999 war das der erste unbestrittene Erfolg der Methode. Seither gehören die Wissenschaftler der renommierten Kinderklinik zu den Stars der Szene, das französische Verfahren wurde weltweit kopiert. Allein in den USA liefen 27 ähnliche Studien mit mehreren hundert Patienten – bis vergangene Woche das vorläufige Aus kam. Die US-Gesundheitsbehörde FDA stoppte alle Therapieversuche wegen Verdachts auf eine möglicherweise tödliche Nebenwirkung: Leukämie.

Durch den Austausch defekter Gene lassen sich angeborene Krankheiten, zumindest im Prinzip, für immer kurieren. Diese „somatische Gentherapie“ hat gegenüber der umstrittenen „Keimbahntherapie“ den entscheidenden Vorteil, dass die Genmanipulationen nicht an nachfolgende Generationen vererbt werden. Dadurch bleiben die Risiken auf den – meist schwer kranken – Patienten beschränkt. Das Problem ist jedoch, dass die Reparatur des Erbmaterials derzeit nur mit Hilfe einer riskanten Methode möglich ist: Der Patient wird mit einem Virus infiziert, in das zuvor die gesunden Gene eingebaut wurden. Als besonders erfolgreich galten bis jetzt die so genannten Retroviren, weil sie sich nach der Infektion in die menschlichen Chromosomen einklinken.

Die Wissenschaftler vom Hôpital Necker ließen ihre gentechnisch veränderten Retroviren auf insgesamt elf Patienten los, die an einer schweren, nur bei Jungen vorkommenden Immunschwäche litten. Kurz darauf konnten die „Bubble Boys“, die sonst nur wenige Jahre in keimfreien Plastikzelten überlebt hätten, als geheilt entlassen werden. Im vergangenen Jahr setzte jedoch bei einem der Jungen, drei Jahre nach der Therapie, eine dramatische Vermehrung der weißen Blutzellen ein: Das Virus hatte sich ausgerechnet an eine Stelle im Erbgut eingeklinkt, die für die Regulation der Zellteilung zuständig ist und damit eine Leukämie ausgelöst.

Die Fachleute hofften zunächst, dass es sich um einen Zufall handelte. Noch im vergangenen Oktober empfahl eine US-Expertenkommission, alle anderen Gentherapie-Studien weiterlaufen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit für diese Aktivierung eines Krebsgens sei eins zu 100 000 und im Übrigen seien in der Familie des Jungen schon früher Krebserkrankungen vorgekommen.

Jetzt ist jedoch ein weiterer der elf Jungen an Blutkrebs erkrankt. Die vorläufige Analyse ergab, dass sich das zur Therapie eingesetzte Retrovirus wieder in exakt das gleiche Krebsgen mit dem Namen „LMO-2“ eingenistet hat. Damit besteht kein Zweifel daran, dass die Gefahr durch Retroviren, zu denen auch das Aidsvirus und einige Krebserreger gehören, erheblich unterschätzt wurde. Da die unberechenbaren Helfer bei etwa der Hälfte aller Gentherapie-Experimente verwendet werden, ist die gesamte Disziplin um Jahre zurückgeworfen – möglicherweise nicht ganz unverschuldet. French Anderson, einer der Pioniere der Gentherapie, kommentierte lakonisch: „Wir wussten, dass es früher oder später passieren würde.“ Die beiden leukämiekranken Jungen werden unterdessen mit Chemotherapie behandelt – um diejenigen Immunzellen wieder abzutöten, die ihnen bisher das Leben gerettet haben.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle. Foto: J.Peyer

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