Berliner Orchester: Klassik ist Bewegung
Während der Streit um die Zukunft der Volksbühne tobt, steht die Berliner Klassikszene ebenfalls vor großen Veränderungen. Gleich vier Chefdirigenten verlassen die Stadt – und niemand ruft den Untergang des Abendlandes aus.
Mit Verwunderung beobachten Klassikfans das kakofonische Gezänk, das wegen der Ablösung von zwei altgedienten Berliner Theaterchefs durch die Republik hallt. Wie viel harmonischer geht es da in in der Musik zu! Wenn Chefdirigenten und ihre Orchester auseinandergehen, wird vielleicht heimlich ein Trauertränchen verdrückt – aber niemand ruft gleich den Untergang des Abendlandes aus. Die beiden Simons verlassen die deutsche Hauptstadt? Möge es ihnen an ihren künftigen Wirkungsstätten gut so gehen wie bei uns.
Simon Halsey hat seit 2001 den Rundfunkchor Berlin zu einem Spitzenensemble geformt. Wenn er am 31. Mai sein letztes Konzert gibt, wird er mit großem Dank verabschiedet – und der Gewissheit, dass Halseys Entscheidung, sich auf die Arbeit in seiner britischen Heimat zu konzentrieren, dem Chor eben auch die Chance für neue Impulse eröffnet. Sein Nachfolger, der 20 Jahre jüngere Gijs Leenaars, wurde bei der Amtseinführung von den Sängern sogar mit Begrüßungsgeschenken bedacht.
London wird Simon Rattle mit dem Neubau eines Konzertsaales empfangen
Wenn Simon Rattle nach 16 Jahren die Berliner Philharmoniker verlässt, um das London Symphony Orchestra zu übernehmen, handelt es sich dabei nicht um einen Abstieg, sondern um einen patriotischen Akt: Seine Rückkehr lässt sich der verlorene Sohn nämlich durch die Zusage versilbern, dass an der Themse endlich ein akustisch perfekter Konzertsaal gebaut wird – zum Wohle der ganzen britischen Klassikszene.
Orchester und ihre Chefs gehen Lebensabschnittspartnerschaften ein. Für deren Dauer gilt: bis dass die Routine euch scheidet. Wenn sich zwei in der Kunst zu gut kennen, wenn der eine immer schon im Voraus weiß, was der andere will, dann ist die Zeit abgelaufen. Der Klassikbetrieb lebt von den Überraschungen im Detail, weil es hier ja darum geht, einen altbekannten Kanon jeden Abend aufs Neue lebendig werden zu lassen. Das geht nur, wenn es zwischen den Interpreten knistert.
Marek Janowski und sein Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sind jetzt genau an diesem Punkt. Es ist das pure Vergnügen, ihnen zuzuhören, aber man spürt auch, wie schnell diese enge Vertrautheit in Alltagstrott kippen kann. Ähnlich ging es dem 76-jährigen Dirigenten jetzt wohl selber: Zur allgemeinen Überraschung erklärte er am Freitag, seinen 2016 auslaufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen. Der strenge Orchestererzieher übergibt ein technisch perfekt trainiertes Team – für den nächsten Qualitätssprung soll dann ein neuer, junger Geist sorgen.
Der Berliner Klassik-Abgang Nummer vier ist so ein Zukunftsmaestro: Tugan Sokhiev. Nach nur vier Jahren geht der 38-jährige Russe dem Deutschen Symphonie-Orchester verloren, weil er „zu Hause“ gebraucht wird, am kriselnden Moskauer Bolschoitheater.
Und noch ein fünftes Orchester könnte bald einen neuen künstlerischen Leiter brauchen: die Staatskapelle Berlin – falls ihr Chef Daniel Barenboim am 11. Mai zum Nachfolger von Simon Rattle bei den Philharmonikern gewählt wird.
Berlin, die Stadt der ständigen Veränderung – ausgerechnet im vermeintlich so konservativen Bereich der Klassik ist diese Behauptung gelebte Realität.
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