Kontrapunkt: Kindesmissbrauch - Die Schweigemauer bröckelt
Nicht jede Zahl aus der jüngsten Untersuchung zum sexuellen Kindesmissbrauch wird auf Punkt und Komma stimmen, meint Tissy Bruns. Aber die Tendenz ist glaubhaft und ermutigend, wenn sie nicht als Entwarnung missverstanden wird.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder, ob in Familien der Institutionen, findet im Verborgenen statt. Weil erzwungenes Schweigen und Scham den Missbrauch schützen, können auch die besten empirischen Untersuchungen nie die ganze Wahrheit aufdecken. Die Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) hat aber den Vorzug, dass sie verglichen werden. Vor zwanzig Jahren hat das Institut eine methodisch sehr ähnliche Forschungsarbeit durchgeführt.
Der Tendenz kann man deshalb trauen. Die Zahlen gehen zurück. Vertrauenswürdig sind sie insbesondere für Gewalt und Missbrauch in Familien und deren Umfeld. 683 von über 11.000 Befragten zwischen 16 und 40 Jahren haben einen Missbrauch in ihrer Kindheit oder Jugend angegeben, 6,4 der befragten Frauen und 1,3 der befragten Männer. Vor zwanzig Jahren hatten das 8,6 bzw. 1,4 Prozent angegeben.
Die Studie bestätigt, dass die Familie der Haupttatort sexueller Gewalt bleibt, über die in Institutionen ist sie zu wenig aussagekräftig: Von den 683 hatte eine Person eine katholischen Priester als Täter angegeben. Über den Missbrauch in Institutionen wie Internaten, Kinderheimen, Vereinen, Behinderteneinrichtungen sind die Daten dieser Studie zu dürftig. Die Vermutung, dass die Gefährdung von Kindern in solchen Einrichtungen größer ist als im Durchschnitt aller Familien, ist plausibel.
Aber im Umfeld der Familien zeigt sich ein Rückgang und das ist ungemein erleichternd. Zu den dunklen Mechanismen sexueller Gewalt an Abhängigen gehört das Geheimnis, das Tätern ihren Opfern aufzwingen. Und das Vergessen, das nach jedem aufgedeckten Missbrauch die Öffentlichkeit befällt. Die befragten Personen waren Kinder, als in den späten 1970en und 1980er die ersten Wellen der Empörung und Aufklärung die sexuelle Gewalt aus dem privaten und institutionellen Dunkel gezerrt haben. Mit ambivalenter Wirkung. Die Diskussion über das rechtliche Verbot von Gewalt in der Erziehung hat in dieser Zeit begonnen. Doch Fälle, wie der Skandal in der Odenwaldschule, konnten in den 1990er Jahren, nach dem ersten Bekanntwerden, noch vertuscht werden. Erst im Windschatten der Enthüllungen um die katholischen Einrichtungen in den beiden letzten Jahren wurde das ganze Ausmaß aufgedeckt. Und sexuelle Gewalt an Kindern zu einem erstrangigen Skandal.
Die Studie gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese Welle der öffentlichen Empörung genug Aufmerksamkeit geschaffen hat, um einer nachhaltigen Prävention echte Chancen zu geben. Die hartnäckige Aufklärungsarbeit der ersten Opfervereine wie „Wildwasser“ oder „Zartbitter“ hat ihre Spuren hinterlassen. Die Schweigemauern der Täter haben ihre Macht verloren, die Anzeigenhäufigkeit ist gestiegen. Recht kann Normen setzen und verändern. Die erst Anfang dieses Jahrtausend erfolgte Verankerung der Gewaltfreiheit in der Erziehung entfaltet Wirkung.
Die Gewalt in Familien geht zurück und damit die Missbrauchsgefahr. Bei der Vorstellung der Studie erinnerte der Leiter des KFN daran, dass geschlagene und vernachlässigte Kinder ein höheres Missbrauchsrisiko haben. Aufklärung nützt. Kinder brauchen zu ihrem Schutz liebevolle Eltern, und eine aufmerksame Öffentlichkeit. Vielleicht war diesmal der Skandal groß genug.
Tissy Bruns
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