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In der Schule sollen die Kinder gefördert werden, doch sind sie auch alle in gleichem Maße formbar?
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Vererbung oder Ausbildung: Keiner wird dumm geboren

Seit den 1960er Jahren scheint es möglich, Menschen zu „konditionieren“, ihr Denken zu programmieren. Kinder wären demnach beliebig formbar. Psychologen und Hirnforscher sind zunehmend skeptisch.

Natürlich fragen sich Eltern in Brandenburg oder Bremen, warum die Schulen in ihren Ländern weniger leistungsfähig sind, denn ihre Kinder sind bestimmt nicht dümmer als die in anderen Teilen der Republik.“ Das sagte Bundesbildungsministerin Annette Schavan aus Anlass des letzten bundesweiten Bildungsvergleichs im Juni in einem Interview mit der „Rheinischen Post“. Der Vergleich zeigte zum wiederholten Mal, dass Schüler im Süden und Südwesten besser abschneiden als solche im Norden. Das Bildungsgefälle von Süden nach Norden bestätigte sich.

„Ihre Kinder sind bestimmt nicht dümmer“: Was, wenn Schavan unrecht hat? Wenn die Kinder im Süden tatsächlich intelligenter sind, jedenfalls im Durchschnitt? Die Tatsache, dass sie in Leistungstests besser abschneiden, lässt das zumindest möglich erscheinen. Die Ministerin lobte die Bildungspolitik der Süd-Länder. Man habe in Unterrichtsqualität und Lehrerbildung investiert. Damit ist der Schwarze Peter bei den mehrheitlich „roten“ Bildungsministern des Nordens. Sie müssten nur das Richtige tun, und schon würden Berlin, Brandenburg und Co. zum Süden aufschließen. Wirklich?

Aus Schavans Worten spricht ein eher unkonservatives Denken. Die geistigen Fähigkeiten der Schüler sind demzufolge nach Bedarf formbar. Es genügen einige ministerielle Maßnahmen – „Unterrichtsqualität“, „Lehrerbildung“ – und schon überträgt sich intellektuelle Kraft vom großen Rad der Kultusbürokratie auf die kleineren Zahnräder der Schulen und Lehrer, um schließlich in die Hirne der Kinder einzudringen und hier Intelligenz, Motivation und Kreativität zu steigern. Das Kind, das kleinste Rad im Getriebe. Ein unbeschriebenes Blatt, das nur darauf wartet, beschriftet zu werden.

Die Idee, dass der Mensch ein geistig beliebig flexibles Wesen ist, seine Seele knetbar wie Lehm, ist eine der großen Leitideen der Moderne. Und eigentlich etwas, was CDU-Politiker wie Schavan kritisch sehen müssten. Früher jedenfalls war man da skeptischer. Noch in den 1950er Jahren war das konservative Menschenbild – und das der Bildungspolitik – eher von dem bestimmt, was man positiv als auf Begabung fixiert bezeichnen könnte. Der Mensch ist so, wie er ist, „Verbesserungsversuche“ stoßen an natürliche Grenzen.

Die 1960er Jahre brachten den Durchbruch eines Bildungsoptimismus, der sich vor allem aus dem Behaviorismus speiste. Er schien es möglich zu machen, Menschen zu „konditionieren“, ihr Denken beliebig zu programmieren. „Geben Sie mir ein Kind und ich forme es ganz nach Wunsch“, lautet ein berühmtes Zitat, das Burrhus Frederic Skinner zugeschrieben wird. Skinner war der Schöpfer des radikalen Behaviorismus und einer Lernmaschine mit dem sinnigen Namen Skinner-Box. Plötzlich wurde Begabung nicht mehr nur als Voraussetzung, sondern als Ergebnis des Lernens interpretiert, wie in einem Gutachten für den Bildungsrat von 1969. Es ging auch darum, die Mauern zwischen den sozialen Klassen niederzureißen und absolute Chancengleichheit herzustellen. Dabei wurde Gleichheit fälschlicherweise als Identität der Menschen interpretiert und Erkenntnisse über biologisch begründete Unterschiede wurden ignoriert oder heruntergespielt.

Die Idee von der prinzipiellen geistigen Gleichheit aller Menschen hat sich bis in die bürgerliche Bildungspolitik durchgesetzt. Und sie ist noch immer ein dominantes Motiv in den Sozialwissenschaften. Danach ist es fast ausschließlich das soziale Milieu, das die Ungleichheit hervorbringt. In jeder neuen Bildungsstudie wird daher kritisch darauf hingewiesen, wie sehr der Schulerfolg von der sozialen Herkunft der Eltern abhängt. „Nur sechs von 100 Arbeiterkindern beginnen ein Hochschulstudium, während 49 von 100 Gymnasiasten aus einkommensstarken Familien eine Universität besuchen“, klagt etwa die Berliner Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger.

Es ist ein absolut erstrebenswertes Ziel, die Hochschulquote von Arbeiterkindern zu erhöhen. Aber liegt es wirklich nur am Einkommen der Eltern, dass die Kinder von Besserverdienern häufig höhere Chancen auf ein Studium haben? Könnte es nicht auch sein, dass intelligente Eltern im Durchschnitt nicht nur mehr verdienen, sondern auch häufiger wieder intelligente Kinder haben?

Neue Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung zeichnen ein anderes Bild vom Menschen als das eines beliebig veränderbaren Individuums, einer Tabula rasa. Der Mensch hat seine natürlichen Wurzeln nicht abgestoßen, er ist kein frei von aller Biologie durch die Welt schwebendes Kulturwesen. Das Denkorgan Gehirn ist ein Produkt der Evolution, verdankt sich dem Zufall genetischer Veränderungen ebenso wie der alles andere als zufälligen natürlichen Auslese. Das bedeutet, dass auch das geistige Leistungsvermögen ein Ergebnis der Evolution ist. Intelligenz wird zu einem nicht unwesentlichen Teil vererbt.

Der Geist ist nicht frei, er ist ein Produkt des Gehirns. Jeder Gedanke, jede Erkenntnis, jeder Satz entsteht in Netzwerken aus Milliarden von Nervenzellen und Billionen von Verknüpfungen. Inzwischen ist es möglich, den Ursprung des Denkens bis in molekulare Details zu verfolgen und in allerersten Ansätzen zu verstehen. So spielt ein Gen namens „Creb“ bei der Entstehung des Langzeitgedächtnisses eine wichtige Rolle. Das Erbmerkmal FoxP2 ist eng mit der Fähigkeit zur Sprache und zum Sprechen verknüpft. An der Entwicklung der Intelligenz sind vermutlich sehr viele Gene beteiligt. Und mittlerweile kennt man rund 300 Erbanlagen, deren Fehlfunktion zu geistiger Behinderung führen kann.

Aber das macht den Menschen nicht zur Marionette, die nur am seidenen Faden aus Erbinformation hängt. Die Gene sind keine Schicksalsgötter. Sie verbieten nicht in erster Linie, sondern sie öffnen den Horizont. Deshalb schmälern sie nicht die Bedeutung des Bildungswesens, im Gegenteil: Sie machen Bildung erst möglich

Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang von Natur und Umwelt ist die Körpergröße. Wie groß ein Mensch wird, ist zu einem wesentlichen Teil genetisch vorherbestimmt. Über die tatsächliche Größe aber entscheiden die Umstände. Zeiten des Mangels lassen Menschen kümmern, Zeiten des Überflusses voll erblühen.

Auch die Fähigkeit zu Sprache und Sprechen ist angeboren. Ob jemand Deutsch, Englisch oder Französisch spricht, bestimmt dagegen die Umgebung. Ähnlich ist es bei speziellen Fähigkeiten. Sie sind zu einem erheblichen Grad biologisch festgelegt. Doch das Milieu und der kulturelle Hintergrund bestimmen mit, ob ein Talent verwirklicht werden kann. Beethovens musikalisches Genie wäre in einer Steinzeithorde sicher auch zur Geltung gekommen. Aber für Symphonien war die Zeit noch nicht reif.

Anlage und Umwelt fließen in der Persönlichkeit zusammen, prägen gemeinsam den Menschen. „Natur gegen Umwelt ist tot“, schreibt der amerikanische Wissenschaftspublizist Matt Ridley in seinem Buch „Das bewegliche Gen“. „Lang lebe Natur durch Umwelt!“. Am Übergang zwischen beiden sind interessante neue Forschungsgebiete entstanden. Neurowissenschaftler bemühen sich, die „Plastizität“ des Gehirns zu verstehen, also die Fähigkeit unseres Denkorgans, sich aufgrund von Umweltreizen zu verändern. Und Epigenetiker studieren, wie die Umwelt die Aktivität der Gene beeinflusst.

Aus den Gegenspielern von einst – Begabung contra Erziehung – ist ein erfolgreiches Team geworden. Matt Ridley erläutert das am Beispiel der Furcht vor Schlangen, Spinnen und anderem ekligem Getier. Schon Kindern wird der „Respekt“ vor ihnen eindringlich vermittelt. Aber dieses Lernen ist genetisch gebahnt. Der Mensch fürchtet sich besonders vor jenen Dingen, die schon dem Steinzeitmenschen zu Recht Angst einjagten: gefährliche Tiere, Dunkelheit, Abgründe, tiefes Wasser, enge Räume. Nur jene überlebten in der Vergangenheit, die sich vor diesen Gefahren in Acht nahmen. Ihre Vorsicht hat sich ins Genom eingegraben. Für Ridley ein klarer Fall von „Natur durch Umwelt“. Lernen ist selbst ein Instinkt.

Erkenntnisse der experimentellen Psychologie und der Neurobiologie werden in der Pädagogik zunehmend ernst genommen. Dennoch: Bis heute ist der „grundlegende Veränderungsoptimismus“ aus Bildungs- und Politikerkreisen nicht verschwunden, beklagt der Hirnforscher Roth. Eigentlich sei es sogar noch schlimmer geworden. Jetzt ist nicht nur der junge Mensch Wachs in den Händen der Älteren. Auch die Älteren sollen ein Leben lang lernen, flexibel und effektiv bis ins hohe Alter sein – „ohne jegliche wissenschaftliche Begründung“, wie Roth meint.

Der Glaube an Bildung und Erziehung gibt Hoffnung, stimmt optimistisch. Umgekehrt ist die Vorstellung schwer zu ertragen, dass dem Lernen aufgrund der Natur des Menschen Grenzen gesetzt sind. Damit werden leicht Arroganz, Fatalismus und Pessimismus verknüpft. Es kränkt, nicht in allem frei zu sein, sich nicht jederzeit so entwickeln zu können, wie man gerne möchte.

Aber wer anerkennt, dass manche Schüler von Natur aus in Mathematik oder Musik begabter sind, fällt damit kein Werturteil. Und es bedeutet vor allem nicht, die Hände in den Schoß zu legen, weil die Natur angeblich schon alles vorgegeben hat. Vielmehr geht es darum, das Potenzial jedes Menschen so weit wie möglich zu entwickeln.

Das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt bei der geistigen Entwicklung des Menschen lässt die These Annette Schavans von der Allmacht der Kultusbürokratie zweifelhaft erscheinen. Hat das substanzielle Bildungsgefälle an Deutschlands Schulen noch andere Ursachen? Vielleicht ist das schlechtere Abschneiden der Schüler im Norden nur ein Indiz.

Natürlich ist das nur eine Annahme, nicht mehr. Immerhin: Sie wird gestützt durch die Tatsache, dass Wehrpflichtige aus Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen in Tests der Bundeswehr besser abschneiden als solche aus Bundesländern wie Bremen, Brandenburg oder Sachsen-Anhalt. Denkbar, dass der Süden intelligenter ist als der Norden – natürlich nur im statistischen Durchschnitt. Über den Einzelnen ist damit nichts gesagt.

Regionale Intelligenz-Unterschiede, oft festgemacht am unterschiedlichen Abschneiden in IQ-Tests, sind ein verbreitetes Phänomen. Über die Ursachen wird heftig gestritten. Zuletzt erregte Randy Thornhill von der Universität von New Mexico Aufsehen, als er einen Zusammenhang zwischen dem niedrigeren IQ in wärmeren Ländern und dem Auftreten schwerer Infektionskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose vermutete. Vielleicht müssen Kinder in tropischen Regionen ihre kostbaren Ressourcen von der Gehirnentwicklung zum Teil in die Abwehr der Malaria „umleiten“, spekulierte Thornhill. Zugespitzt: Immunsystem statt Intelligenz.

Die Malaria ist in Deutschland kein Problem. Aber könnte es nicht sein, dass die unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung das Phänomen unterschiedlich verteilter Intelligenz zumindest zum Teil erklären kann?

Die Geschichte Berlins macht das deutlich. Dem Aufstieg zur Metropole folgte der Niedergang. Diktatur, Krieg und Kalter Krieg ließen die Stadt zurückfallen. Als die Mauer fiel, hatten die meisten großen Unternehmen Berlin lange verlassen, auch wenn Westberlin als Schaufenster der Demokratie mit Steuermilliarden gepäppelt worden war. Ostberlin wie die gesamte DDR hatten einen Exodus fähiger Fachleute hinter sich.

Dagegen konnte der Süden Deutschlands eine Erfolgsbilanz vorweisen. Er prosperierte in den letzten Jahrzehnten, wurde zum Magnet für Talente aus den ärmeren Regionen des Nordens, die den Menschen weniger Entfaltungs- und Karrieremöglichkeiten boten.

Vielleicht hat in solchen Prozessen das Bildungsgefälle eine seiner vielen Ursachen. Zugleich zeigt sich, dass der Weg von der Natur zur Kultur keine Einbahnstraße ist. In diesem Fall haben historische und ökonomische Entwicklungen dazu geführt, dass sich viele Begabte in einer Region des Landes ansiedelten. Die Kultur formte die Natur, und nun prägt diese ihrerseits die Kultur – eine enge Wechselbeziehung.

Für eine Stadt wie Berlin heißt das, dass sie im Bildungswettbewerb nicht von heute auf morgen aufholen kann. Intelligenz ist keine unbegrenzte Ressource und nicht beliebig zu produzieren. Doch es stimmt optimistisch, dass die Stadt wieder zu einem Magnet für helle Köpfe geworden ist. Berlin wird bestimmt nicht dümmer.

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