Bundeswehr-Skandale: Keine Wehrpflicht ist auch keine Lösung
Nazi-Terroristen, Missbrauchsvorwürfe, verschwundenes Kriegsgerät: Die Bundeswehr hat kein Führungsproblem, sondern eins an der Basis. Eine Kolumne.
Um das vorwegzuschicken: Junge Leute aus ihrem Leben zu reißen, ihnen eine Waffe in die Hand zu drücken und neun Monate zu stupidesten Tätigkeiten zu verpflichten, ist unmenschlich. Die vermeintlich harmlosere Form der Zwangsarbeit, der Zivildienst, war es ebenfalls. 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Das war also eine sehr gute Idee vom damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Oder eine sehr gute Idee, die er von irgendwem übernommen hat. Eigentlich.
Ich selbst war Ende der 2000er Jahre noch Zivildienstleistender. Das heißt, ich habe keine Ahnung davon, wie es in der Bundeswehr zugeht. Einerseits. Andererseits scheint das ja den allermeisten Leuten so zu gehen, auch und insbesondere in der Führungsriege des Militärs selbst.
Dass auch mal scharfes Gerät verschwinde, sei nicht ungewöhnlich
Der 28-jährige Soldat Franco A. soll sich über Monate als syrischer Flüchtling ausgegeben und einen Anschlag vorbereitet haben. Gemerkt hat das niemand, obwohl er schon vor drei Jahren rechtsextremes Gedankengut in Form seiner Masterarbeit bei der Truppe eingereicht hat. Sogenannte Eliteeinheiten fallen immer wieder mit Missbrauchs- und Mobbingskandalen auf. In den vergangenen zwei Jahren sind fünf G36-Sturmgewehre verschwunden, eine Pistole und ein G3-Gewehr. Und das sind nur die Fälle, von denen die Bundeswehr weiß. Da ist die Handgranate, die bei einem befreundeten Afghanistan-Veteranen hier in Berlin als Andenken in der Vitrine steht, also noch nicht dabei. Dass nach einer Übung auch mal scharfes Gerät mit nach Hause genommen werde, sagte mir der Freund, sei gar nicht so ungewöhnlich. Kein Grund zur Sorge also, zumal er die Granate mit Klebeband gesichert habe. Wie gut, dachte ich nur, dass er kein Nazi ist.
Da ist er nicht allein. Laut Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen absolviert „die übergroße Mehrheit“ der Soldaten ihren Dienst „voller Respekt vor der freiheitlich demokratischen Grundordnung“. Trotzdem wird auch 70 Jahre nach der Auflösung der Wehrmacht noch immer über „historische“ Gewehre gestritten, über Weltkriegsdevotionalien und Namen von Kasernen. Weil das doch zur Tradition gehöre. Dieses Selbstverständnis ist tief verankert.
Zum Beispiel auch bei Dirk Niebel. Das ist der FDP-Mann, der das Entwicklungshilfeministerium erst abschaffen wollte, dann selbst dort Minister wurde und danach zu Rheinmetall wechselte – gewissermaßen, um die Notwendigkeit für Entwicklungshilfe nachhaltig zu sichern. Der also – auch nicht im Verdacht, ein Nazi zu sein – wechselte unlängst sein Facebook-Profilbild zu einem Wehrmachtssoldaten, darunter der Spruch „Klagt nicht, kämpft“.
In der Bundeswehr konnte er damit niemanden schocken. In der echten Welt schon. Die FDP distanzierte sich panisch, schließlich stand gerade die Wahl in Nordrhein-Westfalen an. In der Bundeswehr scheint man anders darüber zu denken, was geht und was nicht. Da liegt das Problem – und die Wehrpflicht war einmal als Lösung dafür gedacht gewesen. Sie spülte regelmäßig unerfahrene Leute in die Truppe. Bürger in Uniform – zwar einiger ihrer Bürgerrechte beraubt –, aber doch ein Querschnitt der Gesellschaft.
Die Meldungen wurden weniger, nicht die Vorfälle
Die hatten mit Tradition wenig zu tun und wussten, dass der ganze Wahn mit Befehl und Gehorsam bald wieder enden würde: Sie konnten Missstände aufzeigen, ohne um die Karriere fürchten zu müssen. Dieser Effekt fehlt nun. 2009, kurz vor Aussetzung der Wehrpflicht, wurden noch 147 Verdachtsfälle mit rechtsextremistischem, antisemitischem oder fremdenfeindlichem Hintergrund gemeldet. 2011 waren es gerade noch 63. Klar, die Truppe ist jetzt kleiner, aber auch Experten gehen davon aus, dass nicht die Vorfälle weniger geworden sind, sondern die Meldungen.
Von oben, wie Ursula von der Leyen sich das vorstellt, kann die Bundeswehr nicht erneuert werden. Sie muss die Basis verändern. Mehr Frauen, mehr Homosexuelle, mehr dicke Köche und schmächtige IT-Nerds, mehr linke Kfz-Mechaniker, hedonistische Ärzte und humorige Sachbearbeiter, die sich nicht hinter Traditionen verschanzen und die „asketische Elite“, wie die Ethnologin Marion Näser-Lather jüngst das Selbstbild vieler Soldaten beschrieb, infrage stellen.
Doch wer die Truppe für alle Teile der Gesellschaft attraktiv machen will, hat viel Arbeit vor sich. Ein erster Schritt wäre, mehr Individualität zuzulassen. Vielleicht ist es Zeit für mehr Bürger ohne Uniform bei der Bundeswehr.
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