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Russland und Europa: In der Ukraine geht es um mehr als die Ukraine

Der Kern der Ukraine-Krise ist ein kulturell-moralischer Großkonflikt: Sollen Europas Grenzen territorialem Raubrittertum anheimfallen dürfen?

Wladimir Putin hat nie ein Geheimnis aus seiner Weltanschauung gemacht. Aus seiner Verachtung des „dekadenten Westens“, seinem Hass auf alles „Liberale“, seiner Bewertung des Zusammenbruchs der Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe des Jahrhunderts“. Und was Russlands Präsident von sezessionistischen Bestrebungen hielt, demonstrierte er im zweiten Tschetschenienkrieg. Der Schmerz über den Verlust vergangener Größe sitzt in Russland so tief wie die Sehnsucht nach Kompensation. Auch deshalb ist Stalin dort heute beliebter als Michail Gorbatschow. Der nämlich wird verdächtigt, ein Agent Amerikas gewesen zu sein. Mehrere Duma- Abgeordnete wollen ihm wegen Landesverrats den Prozess machen.

Putin hat einen langen Atem

Diese Mosaiksteine verdichten sich zum Bild eines extrem nationalistischen, erzkonservativen, aggressiv-autoritären Moskauer Regimes. Mithilfe des Militärs hat es sich völkerrechtswidrig die Krim einverleibt und bedroht nun die Ostukraine, wo Spannungen gezielt geschürt werden. Die Regierung in Kiew wiederum ist zu schwach, und ihre Mittel sind zu begrenzt, als dass sie aus eigenen Kräften eine Destabilisierung des Landes verhindern kann. Putin hat einen langen Atem, und er sitzt am längeren Hebel. Die Sanktionen beeindrucken ihn kaum.

Doch auch der so genannte Westen – Amerika und Europa – muss sich eingestehen, den Lauf der Dinge nicht wirklich beeinflussen zu können. Das transatlantische Verhältnis ist durch Irakkrieg und NSA-Affäre lädiert, Barack Obamas Außen- und Sicherheitspolitik enthält starke isolationistische Tendenzen, Europas Militär gleicht einem Bettvorleger aus Hamsterfell.

Wiederbelebte transatlantische Allianz kann russischen Expansionsdrang Grenzen setzen

Aus dieser Stakkato-Analyse der Lage lassen sich drei Schlüsse ziehen. Erstens: Die Krise um die Ukraine wird noch sehr lange dauern, weil sie in Wahrheit eine Krise im westlich-russischen Verhältnis ist, das vor einer Neudefinition seiner Grundlagen steht. Zweitens: Die Schwäche des Westens verführt diesen zur Flucht vor dem Blick in den Spiegel. Also werden Fakten akzeptiert (Annexion der Krim) oder geleugnet (russische Aggression), es wird aufgerechnet (auch der Westen hat schon mal das Völkerrecht gebrochen) oder die Bußpeitsche geschwungen (Putin wurde vom Westen provoziert). Drittens: Mittel- und langfristig müssen die beiden zentralen Institutionen des Westens, Nato und EU, verstärkt, ausgebaut und ineinander verzahnt werden. Nur eine wiederbelebte transatlantische Allianz kann dem russischen Expansionsdrang Grenzen setzen.

Russland wird mit Putin seinen eigenen Weg gehen

In der Ukraine geht es um mehr als die Ukraine. Das Land bedarf finanzieller Unterstützung, Misswirtschaft und Korruption müssen bekämpft, gesellschaftliche und juristische Strukturen mühsam aufgebaut werden. Doch im Kern handelt es sich um einen kulturell-moralischen Großkonflikt: Sollen Europas Grenzen territorialem Raubrittertum anheimfallen dürfen? Soll völkisches Denken über staatliche Souveränität triumphieren? Wollen wir, dass sich eine Koalition bildet aus rechtspopulistischen Bewegungen in Europa (plus einigen Linken) und russischen konservativ-autoritären Expansionsideologen?

Russland wird mit Putin seinen eigenen Weg gehen. Dieses Paar in eine Richtung zu lenken, ist von außen fast unmöglich. Aber nichts hindert den Westen, sich seinerseits auf den Weg zu machen – im Geiste neuer Solidarität, im Bewusstsein seiner Fragilität, im Vertrauen auf seine Stärke, getragen von Werten.

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